Gery Wolfsjäger

Casmilda's Gewinn durch Verlust


Скачать книгу

es Kritik für sie gäbe, die es anzunehmen statt abzuwehren galt, oder ruhig und geduldig zu bleiben, wenn ihr jemand widersprach. Traurig und demütig empfand sie die Tatsache, froh und dankbar sein zu müssen, Freunde wie Sharna, Mel und vor allen Dingen Casmy an ihrer Seite zu haben. Wie kommen diese nur mit meinem aggressivem Umgangston zurecht?, wollte sie wissen. Sie hatte einen guten Kern in sich, den ihre Freundinnen aufgrund deren Neutralität klar sehen konnten, Valetta jedoch blieb diese Sichtweise verborgen.

      Sie verteilte ein wenig Shampoo auf ihrem Haar, auch wenn diese Information nicht in der Gebrauchsanweisung enthalten war, aber sie wollte den intensiven Geruchs des Ammoniaks loswerden. Danach trug sie die die beiliegende Kurpackung auf das handtuchtrockene Haar auf, ließ sie kurz einwirken und spülte sie wieder aus. Sie betrachtete sich im Spiegel. Valetta empfand keine Reue oder Angst vor den Reaktionen ihrer Mitmenschen auf die radikale Veränderung, sondern eher eine innere, selbst auferlegte Disziplin. Für einen Moment lang blickte sie konzentriert auf ihre Handgelenke. Die Narben ihrer Schnitte würden sie immer an die seelischen Wunden erinnern, die ihr angetan worden waren. Doch sie schob den Gedanken beiseite, die schwarzen Haare mit den Narben zu vergleichen, da die Haarfarbe keine Selbstverstümmelung für sie darstellen sollte. „Mit diesem Look erinnere ich mich von nun an tagtäglich, dass ich eine tiefe Verzweiflung in mir trage, die es mehr und mehr aufzuarbeiten gilt“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild und lächelte. „Dass mir die Farbe nicht steht, war mit ohnehin von Anfang an klar.“ Mit dieser Einstellung empfand sie ihren neuen Look als ziemlich tragbar, wenn man die optische Vertuschung ihrer schönen blauen Augen aufgrund der Schwärze außer Acht ließ. Die Hände in die Hüften gestemmt betrachtete sie sich neugierig. Nun hatte sie also doch die Möglichkeit, einen Gewinn durch Verlust geschehen zu lassen, indem sie sich mithilfe der schwarzhaarigen Symbolik von ihrer dunklen Vergangenheit mehr und mehr verabschiedete, und daraus neues Leben in ihrem Inneren entstehen ließ.

      Ihr Magen knurrte, als sie beim Verlassen des Badezimmers die Kochnische mit ihren Augen streifte. Frische Zutaten hatte sie nicht im Haus. Ein Fertiggericht sollte es auch tun, also stellte sie einen Topf mit Wasser zu, und streute den Inhalt einer Instant-Packung „Nudeln in Brokkoli - Knoblauchsauce“ hinein, sobald dieses zu kochen begonnen hatte. Das sind Casmys Lieblingsnudeln, dachte sie verträumt. Normalerweise teilte sie die Portion immer mit ihr. Aber nun war sie nicht hier. Auch, wenn sie nicht zur Arbeit gegangen wäre, was die pflichtbewusste Friseuse natürlich aus Gewohnheit unterließ, wäre es keine gute Idee gewesen, an ihre Tür zu klopfen, solange Valetta nicht wusste, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Vielleicht bildete sich Valy ihre Verliebtheit nur ein. Es konnte sich genauso um eine Schwärmerei handeln, weil sie die Erinnerung an den Sexualakt sehr genoss. Als sie langsam mit einem Holzlöffel im Topf zu rühren begann, stellte sie sich Casmy erneut vor.

      Sie dachte an ihre wunderschönen Schenkel. Dann diese glattrasierte Vagina, die Art, wie sie mit gekonnten Bewegungen ihren Körper zur Geltung brachte. Der Geschmack ihrer Zunge, dieser endlos langen, erregenden Zunge. Sie dachte an ihr aubergine getöntes Haar, wie es sich um ihre prallen Brüste geschmiegt hatte. Valy hatte eigentlich ein Faible für kurzhaarige Frauen, aber bei Casmy machte sie eine Ausnahme. Sie war der weibliche Typ, für den Valetta all ihre Aggressionen fallen ließ, zumindest wirkte es so, als sie sich mehr und mehr den Gedanken an ihr sexuelles Abenteuer hingab. Sie brauchte jetzt keine dominante Lesbierin mehr, die ihr die Herausforderung ihres Lebens bot, geschweige denn Dominanz oder Kampfgeist. Was sie für eine erfülltes Leben benötigte, war Ruhe. Das Gleich – und Gleich gesellt sich gern – Prinzip hatte sie in homosexuellen Beziehungen bereits erlebt. Momentan jedoch fühlte sie sich offen für das natürliche Gesetz von Gegensätze ziehen sich an . Sie würde dabei viel von Casmy lernen können, ihre gesamte Sturheit ablegen und sich dessen ruhiger, und doch temperamentvollen Art widmen. Im Gegenzug würde sie sie lehren, belastende Dinge, die schon lange mit sich herumgetragen wurden, herauszuschreien, falls sie diese Lehre benötigte. Ein wahres Geben und Nehmen. Valetta schüttelte den Kopf. „Genug geträumt“, sagte sie in tadelndem Ton zu sich selbst, als sie die Nudeln auf einem Teller drapierte. Sie konnte heißes Essen nicht ausstehen, und wartete ungeduldig mit auf dem Platz tretenden Fuß auf die Abkühlung. Schließlich platzierte sie ein Handtuch auf ihrem Kopf und begann zu essen. Doch die Erinnerung an Casmy und deren sexuelle Hingabe hielten sie davon ab. Dabei wehrte sie sich mit aller Kraft gegen diese Bilder in ihrem Kopf, um zu verhindern, sehnsüchtige Gefühle aufkommen zu lassen. Es erschien ihr außerdem so, als würde eine Mahnung aus ihrer Kindheit seine Fühler nach ihr ausstrecken: der Reiz des Verbotenen war das Endergebnis dieser Mahnung. Alle Dinge, die sie nicht tun durfte, hatten einen gewissen Reiz, sie doch zu tun. Und nun verbot sie als Erwachsene ihrem eigenen inneren Kind, von Casmilda zu träumen, mit wenig Erfolg.

      Mit einem Mal verließ sie der Appetit, weil sie sich nicht auf das Hier und Jetzt konzentrieren konnte. Casmys Körper begleitete sie in ihren Gedanken auch, als sie die Nudeln mit ein wenig Ketchup krönte, um den Geschmack zu verbessern, in der Hoffnung, einen Grund zu haben, mit vollkommenem Gusto zu essen. Sie schmeckte kaum einen Unterschied, versah ihre Nudeln noch mit ein wenig Sauce Hollandaise aus der Packung, aber die gewünschte Veränderung für den Gaumen blieb aus. Den Gedanken, ein wenig Staubzucker zu verwenden, verwarf sie wieder. „Nein, ich bin nicht schwanger“, sagte sie mit einem Lächeln zu sich selbst und bemühte sich, Bissen für Bissen hinunterzuwürgen.

      Nach diesem seltsam gewürzten Essen verspürte sie Magenschmerzen, was sie nicht überraschte.

      Im fiebrigen Zustand sollte sie allerdings auch auf ihren Körper hören, anstatt ihre Aufmerksamkeit auf Tagträumereien zu lenken, die sie seltsame Speisen zu sich nehmen ließen, und sich lieber auf die Genesung ihrer restalkoholischen Disharmonie konzentrieren. Um sich von den Magenschmerzen zu erholen, die starken Brechreiz in ihr auslösten, begab sie sich mit eiligen Schritten zur Toilette und steckte sich den Finger in den Hals. Sie würgte und würgte, bis die gesamte bunte Kreation ihres Mittagessens in der Toilette schwamm, die sie schnell hinfort spülte. Sie putzte sich die Zähne und verwendete Mundwasser. Einem Gefühl der Schläfrigkeit nachgebend gähnte sie laut, wenige Minuten später legte sie sich in ihr Bett, fühlte ihre schweren Beine. Erschöpft von ihrem Brechreiz atmete sie langsam ein und aus. Nun gab sie sich den Tagträumen von Casmilda vollkommen hin. Vielleicht würde sie ja im Schlaf ebenfalls von ihr träumen, wenn sie nun langsam einnickte. Sie drehte sich auf die Seite, den Kopf in Richtung der Wand gerichtet, winkelte die Beine an, um die Embryostellung einzunehmen, die sie zum Schlafen immer bevorzugte, als sie fühlte, wie ihre Augenlider schwerer und schwerer wurden. Gerade, als sie sich in ihrem Körper fallen lassen wollte, erschreckte sie ein Gedanke, der sich als beängstigendes Gefühl in ihrer Herzgegend ausbreitete :sie verurteilte sich selbst als oberflächlich. Warum empfinde ich diese starken Gefühle für Casmilda erst seit unserem gemeinsamen sexuellen Akt? Natürlich konnte die Theorie stimmen, dieser Akt sei die Vervollkommnung ihres platonischen Verständnisses gewesen. Vielleicht aber täuschte sie sich auch. Dies würde sie wissen, wenn ihr Bestreben in nächster Zeit darin lag, mehr und mehr sexuellen Austausch mit ihrer Freundin erleben zu wollen. Andererseits fand sie diesen Wunsch nicht sonderlich verwerflich, weil sie wusste, nicht von einer sexuellen Sucht ergriffen worden zu sein. Dennoch überwog das schlechte Gewissen gegenüber dem vermeintlichen Vorhaben, Casmilda – wenn auch unabsichtlich - auf ein Objekt der Begierde zu degradieren. Das Gespräch über diese eventuelle Oberflächlichkeit mit Sharna und Mel hatte sie am Vortag auch nicht sonderlich weitergebracht. Vielleicht hätte sie aber mehr Kritik erfahren, wenn sie konkret danach gefragt hätte. Valetta massierte ihre Schläfen und drehte ihren Körper Richtung Zimmerdecke. All ihre Spekulationen erschienen ihr bei dieser kurzen Entspannung wiederum als überflüssig. Sie musste mit Casmy über ihre Gefühle sprechen. Andernfalls würde sie niemals herausfinden, was diese über den gemeinsamen sexuellen Akt dachte, ob sie sich eine Beziehung mit ihr vorstellen könnte, oder ob sie diesen Sexualakt jemals wieder praktizieren wollen würde, und wenn ja, war das Warum eine entscheidende Frage. Sie konnte jedoch eine Sache für sich selbst beschließen: sie wollte Casmilda als platonische Freundin nicht verlieren, und würde sie ihre intensiven Gefühle nicht erwidern, würde sie die Tiefe ihrer platonischen Freundschaft weiterhin als das akzeptieren, was sie war: ein wertvolles Geschenk überwältigenden Vertrauens, ohne Sex. „Du kannst niemanden verlieren, den du niemals besessen hast“, meldete sich eine innere Stimme in ihrem Kopf. Valetta nickte, um diese Erkenntnis