Gery Wolfsjäger

Casmilda's Gewinn durch Verlust


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Zeit. Die Durchführung des Tests dauerte laut Anweisung immerhin 48 Stunden. Schnurstracks ging sie ins Badezimmer, um ein altes Handtuch aus dem Kasten zu kramen, um wenige Minuten später fündig zu werden.

      Sie legte es sich um die Schultern, drückte dann den Inhalt der Cremetube in die Flasche mit der weißen, dicklichen Flüssigkeit und schüttelte kräftig, als ihr erneut ein Gedanke kam: ich laufe mit dieser bequemen Aktion der Tatsache davon, Casmilda die Wahrheit über meine Gefühle sagen zu wollen, ohne zu wissen, ob ich unsere Freundschaft tatsächlich gefährdet habe, dachte sie, während sie wütend die Plastikflasche mit der Farbe darin fest drückte. Doch diese erneute Wut gegen sich selbst, weil sie ihre Angst vor dem Geständnis nicht leiden konnte, bestärkte sie noch einmal mehr, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, da sie mit der Farbe schwarz sehr viele „dunkle“ Emotionen verband: Wut, Hass, Trauer, Schmerz, und so weiter. Diese heftigen Ausdrücke ihres inneren Befindens kannte sie nur allzu gut. Also, warum soll ich mein Inneres nicht im Außen tragen?, fragte sie sich erneut, und beschloss nun definitiv, ihren Plan in die Tat umzusetzen.

      Sie hatte mit dem Haarefärben keinerlei Erfahrung, somit würde sie sich damit abfinden müssen, dieses Erlebnis als einen Versuch zu definieren, bei dem das Ergebnis eventuell unliebsame Überraschungen bereithielt. Doch sie ging das Risiko ein. Wie in der Gebrauchsanweisung beschrieben drückte sie ein wenig auf die Plastikflasche, um sich langsam mit der Konsistenz der Haarfarbe vertraut zu machen.

      Die Masse war dünnflüssig, somit tropfte Valetta ein wenig davon auf ihre weiße Hose . Sie wusste jedoch, wie sie diesen Fleck mit Danclorix wieder entfernen konnte.

      Als sie dann aber aus unvorsichtigen Gründen der Handhabung einen Spritzer im Auge abbekam, wurde sie wütend, und ließ einen lauten Schrei vernehmen. Sie dachte darüber nach, die Behandlung abzubrechen, weil sie mit der Ungeduld kämpfte, besann sich dann aber und wusch sich die Augen mit klarem Wasser aus .Dann verteilte sie weiterhin die Farbe in ihrer noch blonden Wuschelmähne.

      Als sie sich mehr und mehr auf ihr Werk konzentrierte, fielen ihr Casmildas Worte über „Gewinn durch Verlust“ ein. Obwohl Valy diese Aussage als philosophisch abtat, und sie Philosophie hasste, weil sie ihrer Meinung nach so realitätsfern war, wollte sie sie jetzt definieren.

      Gewinn durch Verlust, dachte sie, ich gewinne durch den Abschied meiner blonden Haare eine Typveränderung, die kaum zu übersehen sein wird. Sie brach in schallendes, ironisches Gelächter aus. Was für ein Gewinn, binnen einer halben Stunde würde sie eine rabenschwarze Haarpracht ihr eigen nennen!

      Von einer Sekunde auf die andere wurde sie ruhig. Sie arbeitete weiter an ihrer Behandlung, verspürte dabei jedoch eher einen gewissen Ernst anstelle des ironischen Humors. Was sich vor wenigen Momenten noch wie ein Witz anfühlte, schien eine tiefgründige Wahrheit zu offenbaren. Welchen Gewinn erreiche ich gerade durch welchen Verlust?, fragte sie sich, und kratzte mit einem behandschuhten Finger ihren Hinterkopf, da die Farbe zu jucken begann. Erschrocken trat sie einen Schritt zurück, als ihr die Antwort dazu einfiel, an der sie nicht unbedingt Gefallen fand. Durch den Verlust ihrer hellen Haarfarbe konnte sie nur die Erkenntnis gewinnen, einen fatalen Fehler zu begehen, den sie vor wenigen Momenten noch als Lappalie abgetan hatte. Was würde sich ändern, wenn sie ihre Haare schwarz trug? All ihre inneren Einstellungen würden bleiben, wie sie waren. Zwar konnte sie sich künftig anhand ihrer dunklen Mähne daran erinnern, wie wichtig es für sie war, ihr Gefühlsleben in Einklang zu bringen, eine symbolische Helligkeit im Innen wie im Außen anzustreben, andererseits bestand auch die Möglichkeit, sich die Haare nur deshalb zu färben, um von der Lehre, die sie zu bewältigen hatte, abzulenken. „Es liegt nun an mir“, sagte sie laut zu ihrem Spiegelbild, „entweder, ich halte mich an meinen Vorsatz, mein Leben zu behelligen, oder ich habe mir diese unnatürliche Farbe umsonst zugelegt.“ Wenn sie die Colorationscreme in diesem Moment abgespült hätte, wären Flecken in ihrem Haar die Folge gewesen, außerdem wollte sie grundsätzlich eine Sache beenden, sobald sie mit ihrer Durchführung begonnen hatte. Verunsichert blickte Valetta in den Spiegel, als sie merkte, wie dunkel das Ergebnis bereits nach zehn Minuten aussah. Dann fasste sie wieder Mut . Sie drückte eine große Portion der Farbcreme in ihre linke Hand, und massierte sie einfach in ihr Haar ein. Diesen Vorgang wiederholte sie, bis alle Haare bedeckt waren. Mit einem grobzinkigen Kamm verteilte sie das Produkt gleichmäßig und reinigte ihre Haut mir einem Watte-Pad, den sie zuvor mit Essig getränkt, sowie mit Zigarettenasche bestäubt hatte, um Farbränder auf der Haut zu entfernen. Diese Tricks hatte ihr Casmy beigebracht. Während der 30 Minuten Einwirkzeit löste sie eine Kopfschmerztablette in Wasser auf und trank in gierigen Schlucken, um ihre Migräne zu beruhigen. Ich werde aussehen wie der lebendige Tod, dachte sie, als sie sich eine Zigarette anzündete. Fühle ich mich denn nicht auch manchmal so?, sinnierte sie weiter. Die klare Antwort auf diese Frage schockierte Valetta nicht mehr, sie war ihr nicht unbekannt. So oft es ihre psychische Stabilität erlaubte, ging sie in Gedanken zu der schrecklichen Erinnerung ihrer Vergewaltigung zurück. Diesen Tipp hatte ihr eine Therapeutin gegeben. „Ich verstehe, was Sie meinen, wenn Sie sagen, sie fühlen sich nicht mehr richtig lebendig, seitdem Ihnen dieser Gewaltakt widerfahren ist“, hatte Frau Mag. Bogschlew zu ihr gesagt. „Aber Sie müssen diesen Schmerz in Ihrer Erinnerung an das Geschehene zulassen. Ansonsten verdrängen Sie ihn, und er wird Herr über die Sichtweise ihrer Außenwelt. Dieses Stück Leben, in dem sich der Missbrauch abspielte, war für Sie erschütternd. Tasten Sie sich dennoch Schritt für Schritt an den Schmerz heran. Er ist ein Teil von Ihnen, leben Sie ihn aus, ohne ihre Außenwelt für ihn verantwortlich zu machen.“

      Sie blickte auf die Uhr: noch fünfzehn Minuten, dann würde sie die Farbe abwaschen können. Sie wollte die letzten Minuten nutzen, um ihre Meditation durchzuführen. Mit langsamen, ängstlichen Schritten bewegte sie sich auf ihr Bett zu. „Ruhig, ruhig, es wird nur eine Erinnerung sein“, flüsterte sie sich leise zu, wobei sie mit ihren Worten die Tränen nicht aufhalten konnte, die ihr die Wangen hinunterliefen. Sie nahm ein Taschentuch und schnäuzte sich. Es hatte keinen Sinn, in der Vergangenheit zu schwelgen. Dennoch erschien es ihr in diesem heftigen Moment des Schocks, der ihr den Schweiß auf die Stirn trieb, angenehm und beruhigend, sich an die junge Frau zu erinnern, die sie vor dem sexuellen Missbrauch war. Valy begab sich mit schweren Gliedern auf ihr Bett, den Kopf mit der dunklen Farbe auf ein altes Handtuch stützend, und schloss die Augen. Sie entsann sich ihrer Hilfsbereitschaft, ihrem selbstlosen Wesen anderen gegenüber, ihrem blonden, langen Haar, das ihr bis über die Schultern reichte. Sie sah ein Bild der Vollkommenheit, dachte an die vielen Abende mit ihren tiefgründig gesinnten Freundinnen, mit denen sie Pech und Schwefel überstand und jederzeit ein offenes Ohr für sie hatte; harmonisches Geben und Nehmen unter jungen Damen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, das von innen kam. Doch dann zerplatzte ihre Imagination wie eine Seifenblase. Sie sah sich selbst in der Toilette, den Mann mit dem grässlichen Mundgeruch über ihr. „Es ist vorbei, du bist nur eine Illusion!“, rief sie ihm zu, und bemerkte in ihrem Tagtraum, wie ihr Herz zu schlagen begann und die Bildung der Schweißperlen erneut einsetzte. „Ich bin nicht echt?“, raunte die grässliche Stimme des Mannes in ihrer Erinnerung. „Deine Angst ist jedenfalls real, darauf kannst du Gift nehmen, Süße. Und jetzt zieh' dich aus!“ Valetta riss die Augen auf. Sie war sich nicht sicher, ob sie für einen Moment eingedöst war und geträumt hatte, oder ob sie in der Meditation unbewusst ihrer eigenen Angst die Gestalt und Stimme des Mannes gegeben hatte. Sie wollte es auch gar nicht mehr wissen. Sie atmete tief durch und ließ die Tränen zu. Es hätte jetzt keinen Sinn, sie zu trocknen. Doch wann würde sie aufhören zu weinen? Wann würde sie den Schmerz verarbeitet haben? Frau Mag. Bogschlew sagte, das sei abhängig davon, wie oft sie ihre meditativen Übungen machte. Es gab in ihrem psychologischen Repertoire jedoch nicht nur die Übung der Erinnerung an schreckliche Erlebnisse, sondern auch die Meditation von Kraftbildern. Vor drei Jahren hatte sich das schreckliche Ereignis zugetragen. Valetta war bei der Arbeit mit sich selbst ein kleines Stück weitergekommen, aber es sollte wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen, bis sie verkraftet hatte, was geschehen war. „Nur Geduld“, sprach sie sich selbst Mut zu und ging ins Badezimmer. Die Einwirkzeit war vorüber.

      Sie brauchte jetzt im wahrsten Sinne des Wortes einen kühlen Kopf, somit ließ sie eiskaltes Wasser über ihr Haupt laufen. Sie empfand den Strahl angenehm und beruhigend. Gab es auch für ihren inneren Rebell Ruhe und Frieden? Seit der Vergewaltigung ließ sie kaum jemanden an sich heran, rebellierte