gibt wie mich, David und Clément, die sich unter den Nagel reißen, was sie bloß kriegen. Und die alle scharf auf dich sind!
Sie schaute zu ihm auf, ein warmes Gefühl durchlief sie und ihre unschuldigen Augen schienen jede Kraft aus ihm herauszusaugen, so dass er sich noch viel schuldiger fühlte.
Aber er wollte sie unbedingt behalten. Das hieß in der Sprache des Theaters:
So lange er scharf auf sie war!
4
Die Frau saß auf der Bühne, sie hatte den Kopf zur Seite geneigt. Ihr ovales Gesicht war von einem großen schwarzen Hut umgeben, der ihre Stirn beschattete. Eine lange schlanke Hand berührte ihren Hals, auf ihrem Gesicht lag ein merkwürdiges, trauriges Lächeln.
Valentina zögerte, als sie den Mittelgang hinunterging, die Arme beladen mit Dingen, die auf der Bühne gebraucht wurden. Ein Buch fiel herunter und als sie sich bückte, um es aufzuheben, drehte sich die Frau um und sah in den dunklen Zuschauerraum.
Valentina entschuldigte sich, als sie die Treppe zur Bühne hochstieg und sagte, es täte ihr Leid, dass sie sie gestört hätte.
Aber als sie das Gesicht der Frau im Licht sah, das aus den Kulissen kam, merkte sie, dass es Linda Murcia war.
„Sie haben mich nicht gestört. Entschuldigen Sie sich also nicht, meine Liebe.“ Ihre Stimme klang musikalisch, sanft und freundlich. „Legen Sie das Zeug hin. Dort drüben auf den Tisch.“
Linda Murcia streckte einen schlanken Finger aus und Valentina gehorchte.
Sie erinnerte Valentina an eine alte Dame aus dem Süden, die sich verzweifelt an die Gebote der Höflichkeit klammerte, weil sie sie immer noch für gültig hielt.
„Sie sind Schülerin?“ Das Lächeln der Frau war verwirrend.
„Ja. Und Sie sind Linda Murcia. Ich habe Sie vor ein paar Jahren im Fernsehen gesehen. Es war großartig. Sie waren einfach wundervoll“, antwortete Valentina.
Linda Murcia lächelte. Ihr Lächeln war betörend. Das Licht spielte über ihr Gesicht und zeigte deutlich die herabgesunkenen Mundwinkel und die Falten neben den Augen.
Sie muss in ihrer Jugend einmal sehr schön gewesen sein, dachte Valentina. Wie grausam ist es doch für eine Frau, die einmal so schön war, dass sie altern muss. Ihr Make-up war sorgfältig geschminkt, sie war immer noch schlank und sehr elegant gekleidet. Aber Valentina sah es in ihrem Gesicht und dachte, wie wundervoll es doch war, erst neunzehn Jahre alt zu sein. Nie hatte sie daran gedacht, wie es für sie selbst sein würde, alt zu werden.
Nein, dachte sie, ich werde immer jung bleiben!
Jetzt war sie neunzehn, wie lange, wie lange war die Zeit, bis sie mal einundzwanzig war? Eine unwahrscheinlich lange Zeit.
Nein, sie wollte daran nicht denken, denn plötzlich wollte sie nichts anderes sein als neunzehn und verliebt. Das dürfte sich nie ändern!
„So, Sie möchten also ein Star werden!“ Linda lächelte sonderbar und betrachtete Valentina genauer.
„Oh, nein“, antwortete sie und ging näher auf die ältere Frau zu.
„Ich glaube nicht, dass ich wirklich ein Star werden möchte“, sprach Valentina weiter. „Ich habe immer davon geträumt, Schauspielerin zu werden, schon als ich ein kleines Mädchen war und besonders damals, als ich in der Theaterklasse unserer Schule war.“
Valentina lachte und Linda streckte die Hände aus und berührte die Finger des jungen Mädchens.
„Aber nach ein paar Tagen hier im Theater44“, fuhr Valentina fort, „bin ich mir nicht mehr so sicher.“
„Sie sind reizend“, sagte Linda und zum ersten Mal sah sie in die Augen der berühmten Schauspielerin. Es lag in ihnen etwas, das sie an Lara erinnerte, doch war es älter und erfahrener. Valentina war zugleich erschrocken und fasziniert.
„Wie alt sind Sie?“, erkundigte sich Linda Murcia.
„Neunzehn“, antwortete Valentina.
„Neunzehn! Ein magisches Alter. Ein Jahr der Schönheit, der vielen Wunder und des Glaubens. Vielleicht klingt es ein bisschen verrückt für Sie, wenn ich das sage. Sie haben also Zweifel? Ich meine, Zweifel, ob Sie Schauspielerin werden sollen? Ach, wissen Sie, es ist schon harte Arbeit. Die Erregung der Leute da unten“, sie streckte ihre langen schlanken Arme zu dem leeren Zuschauerraum aus, „das machte es aus. Den ganzen Schweiß, das Herzeleid und die Enttäuschung. Und dann kommen die großen Augenblicke. Du stehst allein auf der Bühne. Du hörst den Beifall!“
Sie lachte. „Ach, ich bin immer noch ein Kind!“
Linda stand geschmeidig auf und griff nach Valentina, ihre Hände umklammerten das junge Mädchen, sie starrte sie mit ihren hypnotischen Augen an.
„Du musst davon eingefangen sein, wenn du wirklich Schauspielerin sein willst. Es muss nicht im Kopf sein, sondern in deinem ganzen Körper“, sagte sie. „Es ist eine verzehrende, selbstsüchtige Leidenschaft, eine Liebesaffäre, ein Ehrgeiz, den nichts, gar nichts überwinden kann, ein wahr gewordener Traum, für den du alles opfern musst. Alles und jeden! Es ist ein schrecklicher Preis. Und man muss diesen Preis genau einkalkulieren. Für alles im Leben müssen wir bezahlen. Ich weiß das. Ich habe viel bezahlt.“
„Ich könnte nie so entschlossen sein“, sagte Valentina.
„Im Grunde genommen bin ich nicht ehrgeizig. Ich will einfach spielen, ich will mich selbst vergessen. Aber ich halte mich nicht für so stark, dass ich alles dafür opfern würde.“
„Es ist eine Frage der Stärke. Es ist eine Frage des Egoismus.“
„Ich kann es nicht glauben. Sie sind so schön, Frau Murcia.“
Die Erregung hatte Valentina beim Anblick der Schauspielerin gepackt. Sie war so herzlich, so liebevoll, so wie ihre Mutter nie gewesen war. Linda lachte halblaut, ihre Hand legte sich auf die Schulter von Valentina, die keine Bewegung unternahm, um sich ihr zu entziehen.
„Wie süß du bist, meine Liebe. Aber ich bin nicht mehr schön. Nicht mehr jung und nicht mehr so entschlossen. Ich bin eine alternde Schauspielerin ohne Geld, die das edelmütige Angebot eines jungen Mannes angenommen hat. Ich spreche von David Buchmann. Ich mag David sehr. Er hat mir verdammt viel geholfen, als ich vor ein paar Jahren im Fernsehen eine Art Comeback versuchte. Die Schönheit, die du siehst, ach, das ist alles künstlich. Make-up, Gymnastik, Massage und die Jahre des Trainings als Schauspielerin. Was du siehst, das ist Linda Murcia, das einstmals strahlende Mädchen der großen Theaterbühnen, das Mädchen mit der heiseren Stimme, der faszinierenden Traurigkeit, das Mädchen, das einmal Millionen verdient hatte, durch drei Ehen gegangen war, in einer langer Reihe fürchterlicher Filme spielen musste, fürchterliche Vorstellungen gab. Und dann noch diese entsetzlichen Schlagzeilen.“
„Nicht doch, Frau Murcia! Alle sagen, Sie werden bei der Premiere wundervoll sein.“
Im Grunde genommen ist es völlig egal. Für mich zählt nur noch mein Sohn Leon. Gott sei Dank hat ihn das alles nicht berührt. Er will Medizin studieren. Ich muss Geld verdienen. Warum sollte er durch das, was ich getan habe, durch das Leben, das ich gewählt habe, bestraft werden. Er erhält mich am Leben und so junge Mädchen wie du!“
In dem schwachen Licht sah Valentina die ältere Schauspielerin an, sie sah, wie ihr Mund zuckte und spürte ihre zarte Hand auf ihrer Schulter und wieder einmal überfiel sie diese wundervolle Erregung, gegen die sie nicht ankämpfen konnte, denn die ältere Frau war interessant, sehr erfahren. Valentina wollte diese Erfahrung mit ihr teilen, wollte alles für sie tun und alles von ihr lernen.
Sie gingen hinauf in Lindas Zimmer im Haupthaus des Theaters. Überall lagen oder hingen Fotos aus jener Zeit ihrer größten Erfolge. Auf einem dieser Bilder war Linda nackt. Mit offenem Mund betrachtete Valentina das Bild. Nie zuvor hatte sie einen so wundervollen Körper, so perfekte Brüste gesehen.