sich unerwünschte“ aber für sicher gehaltene Erfolge begründen einen direkten Vorsatz.
c) Bedingter Vorsatz (dolus eventualis)
162Der bedingte Vorsatz enthält das voluntative und kognitive Element jeweils in abgeschwächter Form. Streitig ist, wie der bedingte Vorsatz zu bestimmen und so von der bewussten Fahrlässigkeit (zu dieser noch Rn. 815) abzugrenzen ist. Die Frage ist von erheblicher praktischer Bedeutung, da nach § 15 StGB grundsätzlich nur vorsätzliches Handeln strafbar und die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit gesetzliche Ausnahme ist. Zur Abgrenzung von bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit werden daher eine Vielzahl von Ansichten vertreten.[168] Diese können, wie Tab. 4 zeigt, in zwei Gruppen unterteilt werden. Zu unterscheiden sind Vorstellungstheorien, die das kognitive Element (in |56|unterschiedlicher Intensität) genügen lassen, und Willenstheorien, die darüber hinaus ein voluntatives Element fordern.[169]
Tab. 4:
163Theorien zum bedingten Vorsatz
I. | Vorstellungstheorien | bedingter Vorsatz, wenn |
1. Möglichkeitstheorie | der Erfolgseintritt konkret für möglich gehalten und trotzdem gehandelt wird | |
2. Wahrscheinlichkeitstheorie | die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts erkannt wird | |
II. | Willenstheorien | bedingter Vorsatz, wenn |
1. Billigungstheorie | die Möglichkeit des Erfolgseintritts erkannt und der Erfolgseintritt billigend in Kauf genommen wird | |
2. Ernstnahmetheorie | der Täter die Möglichkeit der Rechtsgutsverletzung ernst nimmt und sich damit abfindet | |
3. Theorie von der Manifestation des Vermeidewillens | keine äußerlichen Maßnahmen zur Vermeidung des tatbestandlichen Erfolges ergriffen wurden |
164Die Problematik und die Auswirkungen der in Tab. 4 dargestellten Auffassungen sollen nachfolgend anhand der Lösung des sog. Lederriemen-Falls veranschaulicht werden:[170] A und B wollten O überfallen. Den Plan, O mit einem ledernen Hosenriemen zu würgen, ließen sie zunächst fallen, weil sie die Gefahr sahen, dass O dadurch nicht lediglich bewusstlos werden, sondern sterben könnte. Als aber der Versuch, O mit einem Sandsack zu betäuben, erfolglos geblieben und es zu einem Handgemenge gekommen war, würgten sie den O schließlich doch so lange mit dem Lederriemen, bis O die Arme fallen ließ. Daraufhin begannen A und B, den O zu fesseln. Als dieser sich aufrichtete, warf sich B auf seinen Rücken und drückte ihn nach unten, während A erneut begann, O mit dem Riemen zu drosseln. Dabei hatte er den Riemen so um Os Hals gelegt, dass das Riemenende durch die Schnalle führte. A zog an dem Riemen wiederum so lange, bis O sich nicht mehr rührte und keinen Laut mehr von sich gab. Als B das merkte, rief er A zu: „Hör auf!“ A ließ daraufhin vom Drosseln ab. A und B fesselten nunmehr O und suchten sich in seiner Wohnung eine Reihe von Gegenständen aus. Anschließend sahen sie nach O und bekamen Bedenken, ob dieser noch lebe. Sie versuchten vergeblich eine Wiederbelebung. – Fraglich ist, ob A und B hinsichtlich des Todes des O vorsätzlich handelten, obgleich ihnen dieser Erfolg unerwünscht war.
165|57|Auf der Grundlage der Möglichkeitstheorie[171] wäre im Lederriemen-Fall bedingter Vorsatz anzunehmen, da die Täter den Todeseintritt infolge Drosselung als konkret möglich erkannt hatten. Der Umstand, dass A und B zunächst von dem Vorhaben der Drosselung mittels des Lederriemens Abstand genommen haben, weist darauf hin, dass sie den Todeseintritt auch für wahrscheinlich hielten. Daher könnte auch unter Zugrundelegung der Wahrscheinlichkeitstheorie vorliegend die Annahme eines dolus eventualis vertreten werden. Zur Ablehnung des Vorsatzes käme die Theorie von der Manifestation des Vermeidewillens angesichts des Umstands, dass A und B die Drosselung aufgrund der erkannten Todesgefahr stoppten und so Maßnahmen zur Vermeidung des tatbestandlichen Erfolgs ergriffen. Würde man die Formel der Billigungstheorie wörtlich anwenden, so käme man ebenfalls zu dem Ergebnis, dass A und B den Tod des O nicht vorsätzlich herbeigeführt haben, denn gebilligt im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs haben sie den ihnen unerwünschten Tod des O gerade nicht. Der BGH, der die Formel seiner Entscheidung des Falles zugrundelegt, nähert sich in der Anwendung der Formel daher der Ernstnahmetheorie an:[172] Denn er geht von einer „Billigung im Rechtssinne“ aus, die vorliege, wenn der Täter „sich (…) damit abfindet, dass seine Handlung den an sich unerwünschten Erfolg herbeiführt“. Der bedingte Vorsatz unterscheide sich „von der bewussten Fahrlässigkeit dadurch, dass der bewusst fahrlässig handelnde Täter darauf vertraut, der als möglich vorausgesehene Erfolg werde nicht eintreten“.
166Gegen Möglichkeits- und Wahrscheinlichkeitstheorie als Ausformungen der Vorstellungstheorien spricht, dass der Verzicht auf ein voluntatives Element die Abgrenzung des Vorsatzes zur bewussten Fahrlässigkeit unscharf macht.[173] Denn auch bei der bewussten Fahrlässigkeit hat der Täter eine Vorstellung vom Erfolgseintritt. Die Abgrenzung muss also über ein voluntatives Element vorgenommen werden: Vorsätzlich ist die (bewusste und) gewollte Tatbestandsverwirklichung, allenfalls fahrlässig die ungewollte Tatbestandsverwirklichung. Zudem vermag der Lederriemen-Fall exemplarisch aufzuzeigen, dass die Wahrscheinlichkeitstheorie wenig praktikabel ist. Auch die Annahme, A und B hätten den Tod des O zwar für möglich, nicht aber für wahrscheinlich gehalten, ließe sich leicht vertreten. Die Theorie von der Manifestation des Vermeidewillens ist dann praktikabel, wenn sich dem Erfolg gegensteuernde Maßnahmen objektiv zeigen. Aber der Schluss von der objektiven Nichtvornahme auf Vorstellung und Willen des Täters ist unzureichend. Auch wenn kein Vermeidewille betätigt wurde, kann es trotzdem am Willen zur Tatbestandsverwirklichung fehlen. Gegen die Formel der Billigungstheorie spricht ebenfalls ihre geringe Praktikabilität.[174] Sie ist letztlich zu allgemein und muss – wie sich |58|auch im Lederriemen-Fall des BGH zeigt – näher konkretisiert werden. Die Ernstnahmetheorie hingegen erfasst zutreffend den Umstand, dass in einem Strafrecht, das dem Rechtsgüterschutz dient, die Grenze zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit daran auszurichten ist, ob sich der Täter für die tatbestandsmäßige Rechtsgutsverletzung entschieden hat (oder nicht).[175] Der bedingte Vorsatz ist so durch die Begriffe des Ernstnehmens und des Sich-Abfindens praktikabel abgrenzbar gegenüber der bewussten Fahrlässigkeit (bei der auf das Ausbleiben des Erfolges vertraut wird).
167Soweit in der Fallbearbeitung die Strafbarkeit wegen eines Tötungsdeliktes zu prüfen und hierbei fraglich ist, ob der Täter mit dolus eventualis oder (allenfalls) mit bewusster Fahrlässigkeit gehandelt hat, ist zu berücksichtigen, dass der BGH in diesem Bereich auf die sogenannte Hemmschwellentheorie zurückgreift:[176] „Angesichts der hohen Hemmschwelle gegenüber einer Tötung ist jedoch immer die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Täter die Gefahr der Tötung nicht erkannt hat oder jedenfalls darauf vertraut hat, ein solcher Erfolg werde nicht eintreten“.[177] Daher genügt der bloße Schluss von der objektiven (auch extremen) Gefährlichkeit des Handelns auf das Vorliegen bedingten Vorsatzes nicht; vielmehr bedarf es für die Feststellung des Willenselements einer besonders sorgfältigen – alle Umstände einbeziehenden – Prüfung des Einzelfalles.[178]
167aAllerdings