Verfassung des Freistaates Thüringen[193]
3. EU-rechtliche Überformung
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Europarechtlich ist das mitgliedstaatliche Haushaltsrecht[198] heute in erster Linie durch die Vorgaben des primär- und sekundärrechtlich ausgestalteten Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts überformt. Art. 126 AEUV, das begleitende Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit (Defizitprotokoll)[199] und das dazu ergangene europäische Sekundärrecht schreiben Stabilitätskriterien fest, die gewährleisten sollen, dass übermäßige öffentliche Defizite vermieden werden[200]. Nach Art. 126 Abs. 2 AEUV i.V.m. dem Defizitprotokoll, der diesbezüglichen Verordnung über dessen Anwendung[201] und den Verordnungen (EG) Nr. 1466/97 i.d.F. der VO (EG) Nr. 1055/2005[202] sowie Nr. 1467/97 i.d.F. der VO (EG) Nr. 1056/2005[203] darf die jährliche Kreditaufnahme 3 vom Hundert im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt nicht übersteigen; zudem darf der öffentliche Schuldenstand nicht höher sein als 60 vom Hundert im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt. Darüber hinaus formuliert der Stabilitäts- und Wachstumspakt die Zielvorgabe nahezu ausgeglichener Haushalte oder von Haushaltsüberschüssen (Mittelfristziel)[204]. Die Mitgliedstaaten sind in diesem Zusammenhang zum Erlass und zur jährlichen Aktualisierung nationaler Stabilitätsprogramme verpflichtet, weiterhin zu halbjährlichen „Maastricht-Meldungen“, die präventiv der Einhaltung der Stabilitätskriterien dienen sollen[205]. Bei Verstößen gegen die materiellen Anforderungen kann der Rat auf Initiative der Kommission in einem gestuften Verfahren tätig werden und auf dieser Grundlage Sanktionen festsetzen (im Einzelnen Art. 126 AEUV).
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Die Vorgaben des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts haben im Zuge der ersten (2006) und zweiten (2009) Föderalismusreform eine Widerspiegelung im bundesdeutschen Haushaltsverfassungsrecht gefunden. Vorrangige Bedeutung hat dabei die allgemeine Verpflichtung auf die „europäische Haushaltsdisziplin“ in Art. 109 Abs. 2 HS 1 GG. Hinzu tritt die bundesstaatliche Lastenverteilungsregelung in Art. 109 Abs. 5 GG. Die im Rahmen der zweiten Föderalismusreform 2009 in das Grundgesetz aufgenommene, Bund und Länder bindende Schuldenbremse nach Art. 109 Abs. 3 GG steht zwar im Einzelnen unabgestimmt neben den Anforderungen des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts, läuft aber in den Rechtswirkungen jedenfalls im Grundsatz parallel[206]. Ungeklärt ist bislang gleichwohl die entscheidende Frage, in welchem Umfang die einzelnen Bundesglieder (Bund, Länder) die europarechtlich eröffnenden Defizit- und Gesamtverschuldungsspielräume nutzen können. Art. 109 Abs. 2 HS 1 GG beschränkt sich darauf, Bund und Länder „gemeinsam“ zu verpflichten. Art. 109 Abs. 5 GG betrifft lediglich die sekundärrechtlichen Haftungsfolgen. Die wirksame Umsetzung der Vorgaben des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts innerhalb der Struktur des deutschen Bundesstaates bleibt dem Gesetzgeber damit nach wie vor aufgegeben[207]. In Betracht kommt gerade auch insoweit eine weitere Ausdehnung der Kompetenzen des Stabilitätsrats nach Art. 109a GG, § 51 HGrG.
Elftes Kapitel Haushalts- und Abgabenrecht › § 66 Haushaltsrecht › B. Rechtsnatur und Rechtswirkungen des Haushaltsrechts
I. Verfassungsrechtliche Grundlagen
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Das Grundgesetz geht in Art. 109 Abs. 1 GG von der bundesstaatlichen Autonomie der Gebietskörperschaften in ihrer Haushaltswirtschaft aus, sieht die Haushaltsräume des Bundes und der einzelnen Länder aber zugleich nicht streng isoliert nebeneinander stehen, sondern vielmehr föderal eingebunden. Dies zeigen nicht nur die Folgeabsätze des Art. 109 GG (Abs. 2 bis 5), sondern auch die sonstigen, für Bund und Länder gemeinsam geltenden, insbesondere Kompetenzen im Bundesstaat zuordnenden Vorschriften der Art. 104a bis 108 GG, weiterhin die Vorschriften über das Währungs- und Notenbanksystem und die Vorschriften über das Zoll- und Handelsgebiet[208].
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Während das Haushaltsrecht des Bundes grundgesetzlich durch die Vorschriften der Art. 110 bis 115 GG näher angeleitet wird[209], sind für das Haushaltsrecht von Bund und Ländern die Regelungen in Art. 109 Abs. 2 bis 5 GG vorrangig maßgebend. So werden Bund und Länder durch Art. 109 Abs. 2 GG in ihrer Haushaltswirtschaft auf die Vorgaben des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts wie auch darauf verpflichtet, dem Ziel des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen (Rn. 163 ff.).
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Die im Rahmen der Föderalismusreform II des Jahres 2009 neu in das Grundgesetz aufgenommene Bestimmung des Art. 109 Abs. 3 GG begrenzt die zulässige Nettoneuverschuldung von Bund und Ländern und ist damit eine Schlüsselvorschrift für die Zukunft einer nachhaltigen Haushaltswirtschaft (Rn. 226).
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Strukturell für das – auch einfachrechtliche – Haushaltsrecht in Bund und Ländern ist die Bestimmung des Art. 109 Abs. 4 GG, ursprünglich eingefügt als Art. 109 Abs. 3 GG a.F. im Zuge der Haushaltsrechtsreform 1967/69, von besonderer Bedeutung. Art. 109 Abs. 4 GG ermächtigt den Bundesgesetzgeber, speziell zu Art. 70 ff. GG, durch zustimmungsbedürftiges Bundesgesetz für Bund und Länder gemeinsam geltende Grundsätze für das Haushaltsrecht, für eine konjunkturgerechte Haushaltswirtschaft und für eine mehrjährige Finanzplanung aufzustellen (ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes)[210]. Eine Regelungsverpflichtung besteht nicht, wenngleich die Ermächtigung geschaffen wurde, um dem Bund in der Situation der Haushaltsrechtsreform 1967/69 ein Handeln gerade auch auf einfachgesetzlicher Ebene zu ermöglichen[211]. Die Reform erschien überhaupt nur dann erfolgversprechend, wenn auf allen Normebenen gestaltet werden konnte. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Ausgestaltung einer gemeinsamen Haushaltssystematik, die erst zur Vergleichbarkeit der Haushalte der Gebietskörperschaften und damit zu gehaltvollen Steuerungsoptionen führt[212].
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Art. 109 Abs. 5 GG beschränkt sich darauf, die Sanktionslasten aufgrund von Verletzungen des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts bundesstaatlich zuzuordnen.
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Neben dem Haushaltsverfassungsrecht des Grundgesetzes ist in den Ländern das landesrechtliche Haushaltsverfassungsrecht zu beachten, dass in der Sache viele der Regelungsinhalte der Art. 110 bis 115 GG für die Länder aufnimmt. Soweit landesverfassungsrechtliche Vorschriften grundgesetzlichen Vorgaben für die Länder zuwiderlaufen, gelten letztere (Art. 31 GG). Bedeutung kann dies gegenwärtig mit Blick auf Art. 109 Abs. 3 GG (Schuldenbremse) bei fehlender Anpassung abweichenden, insbesondere an Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG a.F. orientierten Landesverfassungsrechts bis zum Ende der Übergangszeit (Art. 143d Abs. 1 GG) erlangen.