Peter Behrens

Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht


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Mitgliedstaaten, in denen keine solchen Anforderungen gestellt werden, praktisch von der Einfuhr in diesen Mitgliedstaat ausgeschlossen sind. Auf diese Weise würde der Biermarkt gespalten. Das liefe der Errichtung des Binnenmarkts zuwider, der voraussetzt, dass Waren, die in einem Mitgliedstaat legal im Verkehr sind, auch in den anderen Mitgliedstaaten vertrieben werden können.[33]

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      Der AEUV trägt der Möglichkeit, dass nationale Regelungen oder Verwaltungspraktiken den zwischenstaatlichen Warenverkehr behindern, dadurch Rechnung, dass Art. 34 und 35 AEUV „Maßnahmen gleicher Wirkung“ wie mengenmäßige Beschränkungen der Ein- oder Ausfuhr verbietet. Allerdings verbietet der Vertrag solche Maßnahmen nur „zwischen“, nicht „in“ den Mitgliedstaaten. Das ist von entscheidender Bedeutung: Untersagt wird den Mitgliedstaaten demnach nicht, überhaupt Regelungen der genannten Art zu treffen; die Mitgliedstaaten haben also insoweit nicht etwa ihre nationale Regelungshoheit aufgegeben. Aber: kein Mitgliedstaat darf die Regelungen so anwenden, dass ihre handelsbeschränkenden Wirkungen zum Tragen kommen. Beispielsweise kann also die Bundesrepublik Deutschland daran festhalten, dass Bier im Inland nach dem sogenannten Reinheitsgebot nur aus bestimmten Grundstoffen hergestellt wird; aber diese Regelung darf nicht dazu benutzt werden, ausländische Biere vom Inlandsmarkt fernzuhalten. In solchen Fällen kann es also wieder zu einer „umgekehrten“ Diskriminierung dergestalt kommen, dass die inländischen Produzenten strengeren Auflagen unterliegen als die mit ihnen konkurrierenden ausländischen Wettbewerber. Es liegt nach Auffassung des EuGH aber nicht mehr im Bereich der Freiverkehrsregeln, auch solche Diskriminierungen zu verhindern. Diese Regeln verbieten also genau genommen nicht die Maßnahmen, sondern nur die handelsbeschränkenden Wirkungen (was sich allerdings oft nicht trennen lässt, so dass in vielen Fällen letztlich doch die Maßnahme selbst unterbleiben muss, wenn die Wirkung beseitigt werden soll).

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      Das zentrale rechtliche Problem des Verbots von Maßnahmen gleicher Wirkung besteht nun in der Formulierung eines allgemeinen Kriteriums, anhand dessen bestimmt werden kann, ob eine nationale Regelung als Maßnahme gleicher Wirkung anzusehen ist oder nicht. Es wäre vergleichsweise einfach, wenn sich sagen ließe, dass Art. 34 und 35 AEUV alle Regelungen und Praktiken erfasst, die Import- bzw. Exportwaren schlechter behandelten als für den Inlandsmarkt bestimmte Waren. Das bloße Abstellen auf eine Diskriminierung würde aber zu kurz greifen. Denn – wie sich am Beispiel des Reinheitsgebots für Bier zeigt – ist es denkbar, dass auch nichtdiskriminierende Regelungen, die auf ausländische und inländische Waren unterschiedslos Anwendung finden, den zwischenstaatlichen Verkehr behindern. Letztlich bleibt daher nichts anderes übrig, als stets auf die handelsbeschränkende Wirkung einer Maßnahme abzustellen. Genau dies hat der EuGH in seinem grundlegenden Urteil Dassonville getan. Der Gerichtshof betrachtet danach als Maßnahme gleicher Wirkung ganz allgemein

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      Erforderlich ist also nicht der Eintritt der Handelsbehinderung, sondern die Eignung der Regelung, eine Behinderung des Warenhandels herbeizuführen. Die handelsbeschränkende Wirkung einer Regelung ist offensichtlich, wenn eine Ware, die in einem Teil des Binnenmarkts rechtmäßig hergestellt und in Verkehr gebracht worden ist, im Geltungsbereich dieser Regelung nicht vertrieben werden könnte. Das gilt für alle Regelungen (Produktstandards), die sich auf das Produkt beziehen, indem sie insbesondere die Produktbeschaffenheit abweichend vom Herkunftsstaat der Ware festlegen.

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      Die Nichtanwendbarkeit handelsbeschränkender Regelungen aufgrund der Warenverkehrsfreiheit hat demgemäß zur Folge, dass Waren, die in einem Mitgliedstaat nach den dort geltenden Vorschriften rechtmäßig hergestellt worden sind, im gesamten Binnenmarkt verkehrsfähig sind. Nach Maßgabe der Art. 34 und 35 AEUV geht das Ziel der Warenverkehrsfreiheit den nationalen Regelungszwecken vor. Allerdings macht der AEUV Ausnahmen, indem er in Art. 36 AEUV bestimmten überragenden Gemeinwohlinteressen doch einen Vorrang vor der Warenverkehrsfreiheit einräumt: Ein Mitgliedstaat braucht in seinem Hoheitsgebiet Waren, die in anderen Mitgliedstaaten verkehrsfähig sind, dann nicht zum inländischen Vertrieb zuzulassen, wenn dies aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, oder zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder des gewerblichen und kommerziellen Eigentums erforderlich ist (Verhältnsimäßigkeitsprinzip). Es handelt sich um im AEUV ausdrücklich vorgesehene Rechtfertigungsgründe, mit denen eine Beschränkung des Warenverkehrs legitimiert werden kann.

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      Die handelsbeschränkende Wirkung der Ausübung geistiger Eigentumsrechte bzw. gewerblicher Schutzrechte (Patente, Marken, Urheberrechte, Schutzrechte für Muster und Modelle, Urheberrechte etc.) resultiert daraus, dass sie dem Territorialitätsprinzip unterliegen. Diese Rechte bestehen grundsätzlich nur im Rahmen nationaler Rechtsordnungen. Die zu ihrem Schutz vorgesehenen Abwehrrechte haben daher ihre Grundlage im jeweiligen territorialen Geltungsbereich des Schutzrechts. Beispielsweise wird einem Erfinder der Patentschutz grundsätzlich nur im Rahmen und im Geltungsbereich jeder einzelnen nationalen Patentrechtsordnung gewährt. Daher kann der Patentinhaber die Vermarktung von konkurrierenden Importwaren, die sein nationales Patent verletzen, grundsätzlich unterbinden. Die Geltendmachung von Abwehrrechten wirkt sich daher notwendigerweise als Handelsbeschränkung aus. Art. 36 AEUV akzeptiert diese Konsequenz zwar im Interesse der nationalen Schutzrechtsordnungen. Schutzrechtsbedingte Ausnahmen von der Warenverkehrsfreiheit des AEUV sind aber nur insoweit gerechtfertigt