Anbetracht der Besonderheiten der Dienstleistungen dürfen jedoch diejenigen an den Leistungserbringer gestellten besonderen Anforderungen nicht als mit dem Vertrag unvereinbar angesehen werden, die sich aus der Anwendung durch das Allgemeininteresse gerechtfertigter Berufsregelungen – namentlich der Vorschriften über Organisation, Befähigung, Berufspflichten, Kontrolle, Verantwortlichkeit und Haftung – ergeben und die für alle im Gebiet des Staates, in dem die Leistung erbracht wird, ansässigen Personen verbindlich sind; dies insoweit, als der Leistende dem Zugriff dieser Regelungen nur deshalb entgehen würde, weil er in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist.“[54]
155
Dies entspricht ganz der später zur Warenverkehrsfreiheit entwickelten Cassis de Dijon-Rechtsprechung des EuGH.[55] Auch hier kommen für die Rechtfertigung von Beschränkungen des Dienstleistungsverkehrs nur nicht-wirtschaftliche Interessen in Betracht (insbesondere der Verbraucherschutz). Wirtschaftliche Interessen hingegen können die Mitgliedstaaten nur noch unter den Bedingungen offener Märkte verfolgen. Im Übrigen hat der EuGH die Möglichkeit der Rechtfertigung mitgliedstaatlicher Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit durch zwingende Allgemeininteressen durchweg auf unterschiedslos anwendbare Maßnahmen begrenzt.[56] Diskriminierende Maßnahmen sind danach auf die Möglichkeit der Rechtfertigung durch Erwägungen des ordre public gem. Art. 62 iVm Art. 52 AEUV beschränkt. Allerdings finden sich in der Rechtsprechung gelegentlich auch Ansätze für eine Erstreckung des Rechtfertigungsgrundes der zwingenden Allgemeininteressen auf diskriminierende Maßnahmen.[57]
156
In jedem Fall kommt es auf die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips an. Dieses Prinzip enthält zwei Kontrollmaßstäbe: zum einen die Eignung einer Maßnahme zur Erreichung des jeweiligen Schutzziels, zum anderen deren Erforderlichkeit und Angemessenheit. Die Eignung ist gewöhnlich unproblematisch. Die Erforderlichkeit bemisst sich danach, inwieweit bereits der Herkunftsstaat (Niederlassungsstaat) des Leistungserbringers durch seine Regelungen den Bedürfnissen des Schutzes bestimmter zwingender Allgemeininteressen Rechnung trägt. Dieser Gedanke entspricht dem vom EuGH zur Warenverkehrsfreiheit entwickelten Prinzip, dass alle in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellten und in Verkehr gebrachten Güter in der ganzen Gemeinschaft als verkehrsfähig anerkannt werden müssen.[58] Darin steckt das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung ausländischer Kontrollen und der Grundsatz der Vermeidung von Doppelkontrollen (eingeschränktes Herkunftslandprinzip). Diese Grundsätze hat der EuGH somit auch auf den Dienstleistungsverkehr übertragen.[59] Unter dem Gesichtspunkt der Angemessenheit kommt es zunächst einmal darauf an, dass die mitgliedstaatlichen Maßnahmen nicht über das hinausgehen, was zum Erreichen der Schutzziele erforderlich ist. Zum anderen dürfen die Maßnahmen in die Dienstleistungsfreiheit nicht stärker als erforderlich eingreifen. Unter diesem Gesichtspunkt ist stets zu prüfen, ob der Schutz zwingender Allgemeininteressen nicht auch durch ein milderes Mittel erreicht werden kann, das die Dienstleistungsfreiheit in geringerem Maße oder gar nicht beschränkt.[60] So sind etwa Diskriminierungen – soweit sie überhaupt gerechtfertigt werden können – besonders begründungsbedürftig, weil es nicht ohne weiteres einleuchtet, warum sie zum Schutz öffentlicher Interessen erforderlich sein sollten.
IV. Niederlassungsfreiheit
Literatur:
Nachbaur Niederlassungsfreiheit: Geltungsbereich und Reichweite des Art. 52 EGV im Binnenmarkt (1999); Lackhoff Die Niederlassungsfreiheit des EGV – nur eine Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht? (2000); Siekemeier/Wendland Die binnenmarktliche Niederlassungsfreiheit der Selbstständigen, in: Müller-Graff (Hrsg.) Europäisches Wirtschaftsordnungsrecht [Enzyklopädie Europarecht, Bd. 4] (2015) § 3, 159; Kainer Die binnenmarktliche Niederlassungsfreiheit der Unternehmen, in: Müller-Graff (Hrsg.) Europäisches Wirtschaftsordnungsrecht [Enzyklopädie Europarecht, Bd. 4] (2015) § 4, 209.
1. Verbot von Beschränkungen
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Der Binnenmarkt verlangt nicht nur freien Austausch von Produkten (Gütern und Leistungen), sondern auch freien Verkehr für Produktionsfaktoren. Dabei geht es zunächst einmal um die freie Standortwahl für die Hersteller solcher Produkte, dh für die Rechtsträger von Unternehmen, gleichviel ob es sich um natürliche oder juristische Personen handelt. Diese Standortwahl soll sich an wirtschaftlichen Kriterien orientieren können, also vor allem unter Rentabilitätsgesichtspunkten getroffen werden. Daher nimmt Art. 26 Abs. 2 AEUV die Beseitigung von Hindernissen für den freien Verkehr von Personen im Sinne der Niederlassungsfreiheit ausdrücklich in das Binnenmarktkonzept auf.
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Der AEUV trägt dem konkret Rechnung, indem er in Art. 49 vorsieht, dass alle Angehörigen eines Mitgliedstaates, die eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben, das Recht haben, sich in den anderen Mitgliedstaaten „niederzulassen“, dh dort dauerhafte Einrichtungen zu schaffen, die als Grundlage für die Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten dienen. Dabei kann es sich um Produktions- oder Vertriebsstätten handeln; es kommt aber auch die Gründung von Gesellschaften oder der Erwerb von Anteilen an bestehenden Gesellschaften in Betracht, sofern sie als Direktinvestitionen gedacht sind, dh einen maßgeblichen Einfluss auf die Geschäftsführung vermitteln.[61] Art. 54 AEUV stellt ausdrücklich klar, dass dieses Recht nicht nur natürlichen Personen, sondern auch rechtsfähigen Gesellschaften und juristischen Personen zusteht. Sie können daher in anderen Mitgliedstaaten als ihrem Heimat- bzw. Gründungsstaat nicht nur eine sekundäre Niederlassung (Agentur, Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft) errichten, sondern auch den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit, dh die Hauptniederlassung ganz dorthin verlagern.[62] Von der Niederlassungsfreiheit ausgenommen sind gem. Art. 51 AEUV hoheitliche Tätigkeiten, dh Tätigkeiten, die in einem Mitgliedstaat mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind.
159
Zur Herstellung der Niederlassungsfreiheit ist die Beseitigung aller Beschränkungen, die der Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten entgegenstehen, erforderlich. Dem entspricht Art. 49 Abs. 1 AEUV, dem zu Folge Beschränkungen der freien Niederlassung verboten sind. Andererseits spricht aber Art. 49 Abs. 2 AEUV davon, dass die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates für seine eigenen Angehörigen“ umfasst. Diese Formulierung enthält nur den Grundsatz der Inländerbehandlung. Die Reduktion der Niederlassungsfreiheit auf diesen Grundsatz liefe aber auf ein bloßes Verbot hinaus, Ausländer bei der Anwendung niederlassungsrechtlich relevanter Regelungen zu diskriminieren.
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In der Tat hatte der EuGH die Niederlassungsfreiheit zunächst auf ein Diskriminierungsverbot beschränkt.[63] Inzwischen hat sich aber auch hinsichtlich der Niederlassungsfreiheit ein Rechtsprechungswandel hin zu ihrer Interpretation als Beschränkungsverbot vollzogen.[64] Das entspricht auch dem Wortlaut des Art. 49 Abs. 1 AEUV. Ähnlich wie bei der Dienstleistungsfreiheit folgt hieraus auch für die Niederlassungsfreiheit, dass zunächst einmal Mobilitätshindernisse (dh Hindernisse für die Ein- und Ausreise sowie den Aufenthalt in anderen Mitgliedstaaten) unzulässig sind. Das ergibt sich auch aus der Unionsbürgerschaft aller Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten (Art. 20 und 21 AEUV). Die Niederlassungsfreiheit kann aber ebenfalls durch Berufszulassungs- und Ausübungsregelungen behindert werden, selbst wenn solche Regelungen gleichmäßig auf In- und Ausländer angewendet werden und ihre Erfüllung Ausländern nicht schwerer fällt als Inländern (was eine versteckte Diskriminierung beinhalten könnte). Die beschränkende Wirkung etwa von Qualifikationserfordernissen ergibt sich häufig allein aus dem Umstand, dass die im Heimatstaat erworbenen Qualifikationen mit den im Aufnahmestaat erforderlichen Qualifikationen nicht identisch sind und deshalb häufig nicht anerkannt werden.[65] Beschränkungswirkungen