Peter Behrens

Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht


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      Literatur:

      Ohler Europäische Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit (2002); Lübke Die binnenmarktliche Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit, in: Müller-Graff (Hrsg.) Europäisches Wirtschaftsordnungsrecht [Enzyklopädie Europarecht, Bd. 4] (2015) § 5, 269.

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      Literatur:

      Schmeder Die Rechtsangleichung als Integrationsmittel der EG (1978); Everling Zur Funktion der Rechtsangleichung in der EG, FS Pescatore (1987) 221; Ders. Zur Funktion des Gerichtshofes bei der Rechtsangleichung in der EG, FS Lukes (1989) 359; Müller-Graff Die Rechtsangleichung zur Verwirklichung des Binnenmarkts, EuR 1989, 107; Wagner Das Konzept der Mindestharmonisierung (2000); Hillgruber Die Verwirklichung des Binnenmarktes durch Rechtsangleichung – Gemeinschaftsziel und -kompetenz ohne Grenzen? GS Blomeyer (2004) 597; Bock Rechtsangleichung und Regulierung im Binnenmarkt (2005); Schwartz Rechtsangleichung und Rechtswettbewerb im Binnenmarkt: Zum europäischen Modell, EuR 2007, 194; Oppermann/Classen/Nettesheim Europarecht (6. Aufl. 2015), § 32: Grundfragen der Rechtsangleichung, 506; Bieber/Epiney/Haag/Kotzur Die Europäische Union (12. Aufl. 2016) § 14: Angleichung der Rechtsordnungen, 441.

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      Die durch die wirtschaftlichen Freiheiten bewirkte Marktöffnung ist nicht unbeschränkt. In dem Maße, in dem mitgliedstaatliche Verkehrsbeschränkungen durch zwingende Allgemeininteressen wie etwa den Umweltschutz, Verbraucherschutz oder Gesundheitsschutz gerechtfertigt werden können, bleibt der Binnenmarkt unvollkommen. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass es vielfältige Hindernisse für den zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehr aufgrund der bloßen Unterschiedlichkeit mitgliedstaatlicher Regelungen gibt, die sich auf grenzüberschreitend gehandelte Produkte oder Leistungen beziehen bzw. auf Personen, die grenzüberschreitend beruflich oder gewerblich tätig werden wollen. Solche Regelungen können – ohne mit den wirtschaftlichen Freiheiten des AEUV zu kollidieren – die Marktteilnehmer möglicherweise davon abhalten, von ihren Freiheiten Gebrauch zu machen. Im Übrigen können unterschiedliche nationale Regulierungen auch die Wettbewerbsbedingungen der Unternehmen im Binnenmarkt verzerren. Aufgrund nationaler Regelungsunterschiede ist es möglich, dass Unternehmen aus verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedliche Startchancen im Binnenmarkt haben. Es fehlt insoweit ein „level playing field“.

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      Ein wichtiges Beispiel für die handelshemmende Wirkung von Rechtsunterschieden sind die unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Produktstandards, deren Beachtung Voraussetzung für die Vermarktung von Waren ist. Das Phänomen der Standardisierung erfasst praktisch die gesamte industrielle Produktion. Dabei geht es zum einen um technische Spezifizierungen, die im Falle nationaler Divergenzen die Inkompatibilität bzw. die fehlende Interoperabilität von Produkten zur Folge haben können, deren Gebrauch nur in Kombination mit anderen Produkten sinnvoll ist. (Beispielsweise ist der Stecker eines importierten elektrischen Geräts ohne Adapter unbrauchbar, wenn er nicht die inländischen Steckdosen passt). Zum anderen geht es aber auch um qualitative Schutzstandards, denen Produkte genügen müssen, damit sie nicht die Gesundheit, die Umwelt oder die technische Sicherheit gefährden. Wenn die Mitgliedstaaten der Union jeweils unterschiedliche Schutzstandards anwenden, so müssen die Hersteller, um ihre Waren exportieren zu können, ihre Produkte jeweils diesen unterschiedlichen Schutzstandards anpassen. In all diesen Fällen entstehen Transaktionskosten, die den zwischenstaatlichen Handel u.U. zum Erliegen bringen können.

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      Ein anderes Beispiel für die möglicherweise negativen Auswirkungen von Regelungsunterschieden ist der Bereich des Gesellschaftsrechts. Die mitgliedstaatlichen Gesellschaftsrechtsordnungen enthielten traditionell sehr unterschiedliche Regelungen hinsichtlich der Grenzen der Vertretungsmacht der geschäftsführenden Organe von Kapitalgesellschaften gegenüber Dritten. Diese Unterschiede führten für die ausländischen Geschäftspartner solcher Gesellschaften zu erheblichen Rechtsunsicherheiten. Sie konnten nicht mehr ohne weiteres sicher sein, dass Verträge, die sie mit den geschäftsführenden Organen ausländischer Gesellschaften vereinbarten, auch tatsächlich die jeweilige Gesellschaft wirksam verpflichteten. Obwohl gesellschaftsrechtliche Vertretungsregelungen nicht als Beschränkungen einer der wirtschaftlichen Freiheiten gewertet werden können, kann die aus ihrer Unterschiedlichkeit resultierende Rechtsunsicherheit sich dennoch als Hemmnis für den zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehr auswirken. Es ist nicht auszuschließen, dass Rechtsunsicherheit bezüglich der Vertretungsbefugnis der Organe ausländischer Gesellschaften dazu führt, dass sich Inländer in ihren Handelsbeziehungen tendenziell auf inländische Handelspartner beschränken. – Ein weiteres Beispiel sind etwa die unterschiedlichen Mindestkapitalanforderungen, die an Kapitalgesellschaften gestellt werden. Sie führen zu ungleichen Finanzierungskosten der Gesellschaften und damit tendenziell zu ungleichen Wettbewerbsbedingungen.

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      Die Lösung solcher Probleme sieht das Unionsrecht in der Rechtsangleichung bzw. Rechtsvereinheitlichung durch unionsrechtliche Sekundärgesetzgebung. Dafür enthält der AEUV diverse Ermächtigungen. Dabei verwendet der AEUV die Begriffe „Rechtsangleichung“, „Harmonisierung“, „Koordinierung“ oder „Vereinheitlichung“ durchweg synonym. Die umfassendsten allgemeinen Ermächtigungsgrundlagen sind in Art. 114–117 AEUV enthalten. Es handelt sich um allgemeine legislatorische Querschnittskompetenzen. Danach kann die Union im Prinzip auf allen Rechtsgebieten bestimmte Regelungen zum Gegenstand der Rechtsangleichung bzw. Rechtsvereinheitlichung machen, sofern sie in einem Funktionszusammenhang mit dem Binnenmarkt stehen. Das ist nach dem Wortlaut der genannten Bestimmungen der Fall, wenn die Rechtsangleichung „erforderlich“ erscheint, um mitgliedstaatliche Beschränkungen der wirtschaftlichen Freiheiten oder Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt aufzuheben. Im Übrigen sieht der AEUV eine Reihe weiterer spezieller Rechtsangleichungskompetenzen vor, die aber ebenfalls im Zusammenhang mit der Verwirklichung des Binnenmarkts stehen. Hervorzuheben sind vor allem die im Rahmen der Niederlassungsfreiheit relevanten Art. 50 und 53 AEUV. Schließlich kann die Union in diesem Zusammenhang erforderlichenfalls auch auf die „Vertragsabrundungskompetenz“ gem. Art. 351 AEUV zurückgreifen, die ein Tätigwerden, falls erforderlich, auch dann ermöglicht, wenn es dafür an einer vertraglichen