bb) Die Fälle 5a–5c betreffen Änderungen der bisherigen Rechtslage (sog. Sekundärtatsachen). § 15 I HGB findet indes auch Anwendung, wenn die Eintragung und Bekanntmachung einer sog. Primärtatsache unterlassen wird:
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Fall 5d:
Die K-GmbH kauft von V eine Maschine. Obgleich er ein Handelsgewerbe betreibt, hat V die Eintragung in das Handelsregister entgegen § 29 HGB unterlassen. Nach einiger Zeit stellen sich Mängel der Maschine heraus, die bei einer Untersuchung im Zeitpunkt der Ablieferung erkennbar gewesen wären. Aufgrund von § 15 I HGB kann V den von K geltend gemachten Gewährleistungsrechten den Einwand der unterlassenen Mängelrüge gem. § 377 HGB[15] jedoch nicht entgegen halten; die für V günstige Tatsache der Kaufmannseigenschaft und damit die Anwendung von § 377 HGB (weil beiderseitiger Handelskauf) kommt gegenüber K nicht zur Anwendung, es sei denn, K war die Kaufmannseigenschaft von V bekannt.[16]
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cc) Zweifelhaft ist, ob § 15 I HGB auch dann eingreift, wenn bereits die Tatsache nicht eingetragen und bekanntgemacht ist, die sich nunmehr geändert hat (sog. Fehlen der voreintragungspflichtigen Tatsache oder sekundäre Unrichtigkeit).
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Fall 5e:
Kann sich etwa der Geschäftspartner des Prokuristen im Fall 5a bei unterlassener Eintragung und Bekanntmachung des Widerrufs auch dann auf die Wirkungen der widerrufenen Prokura berufen, wenn bereits die Prokuraerteilung entgegen § 53 I 1 HGB nicht eingetragen und bekanntgemacht worden war?
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Ein Teil des Schrifttums plädiert in diesem Fall für eine teleologische Reduktion des § 15 I HGB[17]. Da das Handelsregister nach Eintritt der zweiten Tatsache wieder der wahren Rechtslage entspreche, werde bei fehlender Voreintragung durch das Unterlassen der zweiten Eintragung kein Rechtsschein erzeugt.[18] Demgegenüber ist die Eintragung der voreintragungspflichtigen Tatsache nach hM grundsätzlich keine Voraussetzung für die Anwendung des § 15 I HGB.[19] Dafür spricht zum einen der Wortlaut der Vorschrift, der insoweit keine Einschränkung enthält, aber zum anderen auch die Überlegung, dass der zu schützende Dritte auch unabhängig von der Registereintragung von der Tatsache Kenntnis erlangt haben kann, etwa weil im Fall 5a P über längere Zeit als Prokurist aufgetreten ist, so dass der Vertrauenstatbestand daher nicht zwangsläufig durch die vorherige Registereintragung begründet sein muss. Überhaupt lässt sich das Erfordernis der Voreintragung nur auf Grundlage einer konkreten Vertrauenslehre rechtfertigen, während § 15 I HGB nach zutreffender Auffassung als abstrakter Vertrauenstatbestand begriffen wird.[20] Zur Vermeidung gänzlich unbilliger Ergebnisse ist mit einem Großteil des neueren Schrifttums § 15 I HGB allerdings dahingehend (und nur insoweit) teleologisch zu reduzieren, dass der Dritte sich dann nicht auf die fehlende Eintragung und Bekanntmachung der Rechtsänderung berufen kann, wenn die voreintragungspflichtige Tatsache nicht nach außen bekannt geworden ist, wofür jedoch den Anmeldepflichtigen die Beweislast trifft.[21]
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Fall 5f:[22]
Geschäftsführer G ist durch Gesellschafterbeschluss zum Geschäftsführer der X-GmbH bestellt worden, was aber nicht zur Eintragung im Handelsregister angemeldet worden war. Später ist G durch Gesellschafterbeschluss wieder abberufen worden. Diese Abberufung wurde zur Eintragung in das Handelsregister angemeldet. Das Registergericht lehnt die Eintragung mit der Begründung ab, G sei nicht als Geschäftsführer eingetragen gewesen, so dass auch eine Eintragung seines Ausscheidens nicht in Betracht komme. Mit Recht?
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Nach Maßgabe des § 39 I GmbHG ist jede Änderung der Personen der Geschäftsführer zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden. Dazu gehört auch die nach § 46 Nr. 5 GmbHG von den Gesellschaftern zu beschließende Abberufung eines Geschäftsführers. Fraglich ist also, ob das Registergericht bei ordnungsgemäßer Anmeldung die Eintragung verweigern darf, weil schon die Bestellung des G nicht eingetragen war (Fehlen der voreintragungspflichtigen Tatsache). Dies ist nach zutreffender Auffassung gerade nicht der Fall. Die Gesellschaft hat im Hinblick auf die Publizitätswirkungen des § 15 I HGB ein erhebliches Interesse daran, das Ausscheiden des G eintragen zu lassen. Ihr droht nämlich auch dann eine Haftung nach § 15 I HGB, wenn die Bestellung des G nicht eingetragen war.[23] Der gutgläubige Dritte wird gem. § 15 I HGB auch vor den Folgen nicht eingetragener Tatsachen geschützt, wenn die gebotene Voreintragung unterblieben ist.[24] Damit muss es auch möglich sein, die Abberufung ohne Rücksicht auf die Voreintragung einzutragen.
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dd) Die Tatsache darf nicht eingetragen und nicht bekanntgemacht sein. Allein die Eintragung im Handelsregister befreit daher noch nicht von den Wirkungen des § 15 I HGB.
75
ee) Dem Dritten darf die Tatsache, die zur Änderung der Rechtslage führt, nicht bekannt sein. Aus der Gesetzesformulierung („es sei denn“) folgt (wie etwa auch bei § 932 I 1 BGB), dass die Unkenntnis zugunsten des Dritten vermutet wird (Beweislastregel!); zur Widerlegung ist es daher erforderlich, dass der Anmeldepflichtige die Kenntnis des Dritten beweist.[25] Grob fahrlässige Unkenntnis schadet dem Dritten (insoweit anders als bei § 932 I 1, II BGB) nicht; dieser Grundsatz gilt auch bei anderen Tatbeständen des Registerschutzes, wie zB §§ 892, 1412 BGB; vgl. aber auch § 16 III 3 GmbHG.
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Beispiel:
Deshalb darf auch der Geschäftspartner einer GmbH, der von der Abberufung des im Handelsregister eingetragenen Geschäftsführers und dessen gerichtlichen Vorgehen gegen die Abberufung weiß, solange nach § 15 I HGB auf die Vertretungsberechtigung vertrauen, bis ihm die Wirksamkeit der Abberufung positiv bekannt ist.[26]
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ff) Entsprechend dem Normzweck (Schutz des Rechtsverkehrs) findet § 15 I HGB kraft teleologischer Reduktion keine Anwendung im sog. „Unrechtsverkehr“. Auch wenn es sich bei § 15 I HGB um einen abstrakten Vertrauenstatbestand handelt (Rn. 63), so findet die Vorschrift gleichwohl nur dann Anwendung, wenn der Dritte zumindest potenziell auf die Nichteintragung vertrauen durfte (Lehre von der potenziellen Kausalität).[27] Ist ein Vertrauen hingegen unter allen denkbaren Umständen ausgeschlossen, ist der Dritte a priori nicht schutzwürdig und kommt daher auch nicht in den Genuss des § 15 I HGB.[28]
78
Fall 6:[29]
Wird D vom Gesellschafter G der X-OHG überfahren, so haftet für diese Deliktsverbindlichkeit der ausgeschiedene Gesellschafter Y auch dann nicht, wenn sein Ausscheiden nicht eingetragen und bekanntgemacht wurde.[30] In diesem Fall fehlt es bereits an der Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen dem Schadenseintritt und der Unkenntnis des Dritten vom Ausscheiden des Gesellschafters.[31] Niemand lässt sich im Vertrauen auf die Haftung eines potenziellen Schuldners schädigen.
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Diese Einschränkung bedeutet allerdings nicht, dass § 15 I HGB nur auf Rechtsgeschäfte Anwendung findet. Ausreichend ist es, wenn der geltend gemachte Anspruch mit einem Rechtsgeschäft im Zusammenhang steht, wie zB im Falle der culpa in contrahendo (§§ 280 I, 311 II, III, 241 II BGB), Leistungskondiktion, Geschäftsführung ohne Auftrag, aber auch bei Delikten, die im Rechtsverkehr begangen werden (etwa Betrug bei Vertragsschluss).[32] Die Vorschrift gilt schließlich auch im Prozessverkehr.[33] Keine Anwendung findet § 15 I HGB hingegen auf (gesetzliche)