herleite. Diese Lebensgemeinschaft umfasse als Einheit auch die beiden Elternteile.[95]
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Das BVerfG hatte lange keinen verbindlichen Familienbegriff formuliert. Es hat zwar davon gesprochen, dass „Konkubinate“[96], auch wenn sie „[…] jahrelang bestanden haben, […] keinen verfassungsrechtlichen Schutz beanspruchen“[97] können, aber diese Entscheidung war „aus dem Gesichtspunkt des Schutzes der Institution Ehe“[98] getroffen worden. Andererseits hat es den Familienbegriff nicht statisch-definitiv umrissen, sondern begreift ihn funktional.
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In einer Leitentscheidung[99] hat das Gericht die funktionale Stufung der Familie i.S.d. Art. 6 Abs. 1 GG näher dargelegt und dabei die unterschiedliche Schutzdichte des Grundgesetzes für die jeweils vorliegende Familienfunktion hervorgehoben. Der Familienschutz des Grundgesetzes bezieht sich als erstes und in seinem Kern auf die Familie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Diese Familie wird „als verantwortliche Elternschaft […] von der prinzipiellen Schutzbedürftigkeit des heranwachsenden Kindes bestimmt“.[100] Mit zurückgehender Erziehungs- und Pflegebedürftigkeit wandelt sich die Familie von einer Lebens- zu einer bloßen Hausgemeinschaft, in der die Mitglieder trotz gemeinsamen Haushalts ein weithin individuelles Leben führen. Nach Auflösung dieser Hausgemeinschaft bleibt die Familie als Begegnungsgemeinschaft erhalten.[101] Die Entfaltung des verfassungsrechtlichen Schutzes (Institutsgarantie, Freiheitsrecht, wertentscheidende Grundsatznorm) wirkt nicht auf jede Familie in vollem Umfang, sondern in dem Maße, in dem von ihren Mitgliedern (Eltern) die beschriebenen Familienfunktionen wahrgenommen werden. So hat das BVerfG im Falle der Adoption eines (auszuweisenden) erwachsenen Ausländers den Maßstab des Art. 6 Abs. 1 GG auf eine bloße Begegnungsgemeinschaft reduziert, die auch durch Besuche, Brief- und Telefonkontakte aufrechterhalten werden könne.[102] Diese vom BVerfG entwickelte funktionale Stufung von „Familie“ und die damit einhergehende, sich im Laufe der Zeit funktionsbedingt ändernde Schutzwirkung des Art. 6 Abs. 1 GG sprechen dafür, (bei gelebter Hausgemeinschaft) gegebenenfalls auch Dritte in den Schutzbereich der Norm einzubeziehen und als Mitglieder der „Familie“ anzuerkennen, sofern auf Dauer von ihnen Familienfunktionen wahrgenommen werden. Die Institutsgarantie gewährleistet (wie beim Eheschutz) ein Recht zu einer Familiengemeinschaft im Bundesgebiet aber nur, wenn sich alle Familienmitglieder rechtmäßig auf Dauer im Bundesgebiet aufhalten.[103] Aufenthaltsrechtliche Schutzwirkung geht dagegen zunächst nur von Art. 6 Abs. 1 GG als wertentscheidender Grundsatznorm aus, der bei ermessensfehlerhafter Rechtsausübung ein Grundrechtsschutz nachfolgt.
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Nach diesen Maßstäben stellt die Gemeinschaft nicht miteinander verheirateter Elternteile eine Familie dar.[104] Das BVerfG spricht von der „durch Geburt entstandenen Familie“[105] und hat diese Auffassung nun im Hinblick auf die Beziehung zwischen dem biologischen (aber nicht im Rechtssinne anerkannten) Vater und seinem Kind deutlich zum Ausdruck gebracht. Danach stellt der Familienbegriff des Art. 6 Abs. 1 GG auf die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen Eltern und Kind ab, auf die faktische Wahrnehmung der elterlichen Verantwortung.[106] Auch die Gemeinschaft zwischen dem biologischen Vater und seinem Kind bildet deshalb eine Familie: Leben die Eltern mit dem Kind zusammen, besteht eine Familie, nehmen sie getrennt voneinander Verantwortung für das Kind wahr, hat dieses zwei nach Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Familien.[107]
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In Fall 2 kann F deshalb die Ausweisung des A nach Art. 6 Abs. 1 GG angreifen, wenn diese Ausweisung die grundlegende Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG verkannt hat. Dies hängt davon ab, ob von der Ausländerbehörde die hier vorliegende Familie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft hinreichend gewürdigt wurde. Wäre die F nach den Umständen des Einzelfalls in ihrer Stellung und Aufgabe als Mutter auf die Mithilfe des A (maßgeblich) angewiesen, so dürften allgemeine aufenthaltspolitische Erwägungen eine Ausweisung kaum tragen.
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Auch in der Abwandlung von Fall 2 kann sich A auf den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG berufen, weil er für sein Kind maßgebliche Familienfunktionen wahrnimmt, nämlich das Umgangsrecht des Kindes (§ 1684 Abs. 1) als grundlegende Aufgabe im Kernbereich der Familie (Erziehungsgemeinschaft für die leibliche und seelische Entwicklung des Kindes). Dass er mit seinem Kind nicht in häuslicher Gemeinschaft lebt, schließt den Familienschutz des Art. 6 Abs. 1 GG für ihn nicht aus.[108]
Erster Teil Grundlagen › § 2 Verfassungsrechtliche Implikationen › III. „Eltern“ und „Elternrecht“
III. „Eltern“ und „Elternrecht“
Erster Teil Grundlagen › § 2 Verfassungsrechtliche Implikationen › III. „Eltern“ und „Elternrecht“ › 1. Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) und elterliche Sorge (§§ 1626 ff.)
1. Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) und elterliche Sorge (§§ 1626 ff.)
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Die elterliche Sorge (§ 1626) ist der bedeutendste Bestandteil des durch Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG anerkannten Elternrechts. Aber dieses beschränkt sich nicht auf die Wahrnehmung der elterlichen Sorge und ist deshalb von ihr streng zu trennen. Ein Elternteil, dem das Sorgerecht teilweise oder ganz entzogen wurde (§§ 1666 Abs. 3 Nr. 6, 1666a Abs. 2), bleibt dennoch Inhaber und Adressat des Elternrechts i.S.d. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Das zeigt sich etwa darin, dass auch der nicht sorgeberechtigte Elternteil zum Umgang mit dem Kind verpflichtet und berechtigt bleibt (§ 1684 Abs. 1 Hs. 2), dass ihm unter bestimmten Voraussetzungen Entscheidungsbefugnisse gegenüber dem Kind zustehen (§ 1687a) oder dass zur Adoption seines Kindes auch seine Einwilligung erforderlich ist (§ 1747 Abs. 1). Insoweit verbleibt es unabhängig von der Sorgeberechtigung und über die Volljährigkeit von Kindern hinaus bei einer grundsätzlich unentziehbaren und unaufgebbaren Verantwortung, die bleibend an den Status der Elternschaft i.S.d. Art. 6 Abs. 2 GG anknüpft. Dieses Elternrecht erkennt Art. 6 Abs. 2 GG als das „natürliche Recht“ der Eltern an. Grundrechtsdogmatisch bedeutet dies, dass das Elternrecht nicht vom Staat verliehen ist, sondern von diesem als ein ihm vorgegebenes Recht in Art. 6 Abs. 2 GG anerkannt wird.[109] Das Elternrecht wirkt auf die (verfassungskonforme) Auslegung der familienrechtlichen Sorgerechtsvorschriften zurück. Dies hat zu einer grundlegenden Änderung der Regelungen zur gemeinsamen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern geführt: während es das BVerfG zunächst noch für angemessen erklärt hat, dass der Vater bei nicht miteinander verheirateten Eltern nur mit Zustimmung der Mutter ein gemeinsames Sorgerecht erlangen konnte,[110] hat der EGMR in dieser Regelung einen Verstoß gegen Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 8 EMRK gesehen.[111] Darauf änderte das BVerfG seine Auffassung und erklärte §§ 1626a Abs. 2, 1672 a.F. für verfassungswidrig.[112] Bis zum Inkrafttreten der Neuregelung durch das Gesetz zur Reform der elterlichen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern[113] zum 19.5.2013 (vgl. nunmehr §§ 1626a, 1671) waren die Gerichte infolge der Entscheidung des BVerfG übergangsweise verpflichtet, dem Vater die Alleinsorge zu übertragen, wenn eine gemeinsame Sorge nicht in Betracht kam und zu erwarten war, dass die Übertragung der Alleinsorge auf den Kindesvater dem Kindeswohl am besten entspricht.[114]