eine gewisse Überreizung selbst der moralischen Empfindung,
2) das Quantum Verbitterung und Verdüsterung, das der Pessimismus mit sich in die Veurtheilung trägt: – beides zusammen hat der entgegengesetzten Vorstellung, daß es schlecht mit unsrer Moralität steht, zum Übergewicht verholfen.
Die Thatsache des Credits, des ganzen Welthandels, der Verkehrsmittel – ein ungeheures mildes Vertrauen auf den Menschen drückt sich darin aus … Dazu trägt auch bei
3) die Loslösung der Wissenschaft von moralischen und religiösen Absichten: ein sehr gutes Zeichen, das aber meistens falsch verstanden ist.
Ich versuche auf meine Weise eine Rechtfertigung der Geschichte.
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64.
Der zweite Buddhismus. – Vorzeichen dafür: Das Überhandnehmen des Mitleids. Die geistige Übermüdung. Die Reduktion der Probleme auf Lust- und Unlust-Fragen. Die Kriegs-Glorie, welche einen Gegenschlag hervorruft. Ebenso wie die nationale Abgrenzung eine Gegenbewegung, die herzlichste »Fraternität«, hervorruft. Die Unmöglichkeit der Religion, mit Dogmen und Fabeln fortarbeiten zu können.
Mit dieser buddhistischen Cultur wird die nihilistische Katastrophe ein Ende machen.
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65.
Was heute am tiefsten angegriffen ist, das ist der Instinkt und der Wille der Tradition: alle Institutionen, die diesem Instinkt ihre Herkunft verdanken, gehen dem modernen Geiste wider den Geschmack … Im Grunde denkt und thut man Nichts, was nicht den Zweck verfolgte, diesen Sinn für Überlieferung mit den Wurzeln herauszureißen. Man nimmt die Tradition als Fatalität; man studirt sie, man erkennt sie an (als »Erblichkeit« –), aber man will sie nicht. Die Anspannung eines Willens über lange Zeitfernen hin, die Auswahl der Zustände und Werthungen, welche es machen, daß man über Jahrhunderte der Zukunft verfügen kann – das gerade ist im höchsten Maaße antimodern. Woraus sich ergiebt, daß die desorganisirenden Principien unserem Zeitalter den Charakter geben.
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66.
»Seid einfach« – eine Aufforderung an uns verwickelte und unfaßbare Nierenprüfer, welche eine einfache Dummheit ist … Seid natürlich: aber wie, wenn man eben »unnatürlich« ist? …
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67.
Die ehemaligen Mittel, gleichartige, dauernde Wesen durch lange Geschlechter zu erzielen: unveräußerlicher Grundbesitz, Verehrung der Älteren (Ursprung des Götter- und Heroen-Glaubens als der Ahnherren).
Jetzt gehört die Zersplitterung des Grundbesitzes in die entgegengesetzte Tendenz. Eine Zeitung an Stelle der täglichen Gebete. Eisenbahn, Telegraph. Centralisation einer ungeheuren Menge verschiedener Interessen in Einer Seele: die dazu sehr stark und verhandlungsfähig sein muß.
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68.
Weshalb Alles Schauspielerei wird. – Dem modernen Menschen fehlt: der sichere Instinkt (Folge einer langen gleichartigen Thätigkeitsform einer Art Mensch); die Unfähigkeit, etwas Vollkommnes zu leisten, ist bloß die Folge davon: – man kann als Einzelner die Schule nie nachholen.
Das, was eine Moral, ein Gesetzbuch schafft: der tiefe Instinkt dafür, daß erst der Automatismus die Vollkommenheit möglich macht in Leben und Schaffen.
Aber jetzt haben wir den entgegengesetzten Punkt erreicht, ja, wir haben ihn erreichen gewollt – die extremste Bewußtheit, die Selbstdurchschauung des Menschen und der Geschichte: – damit sind wir praktisch am fernsten von der Vollkommenheit in Sein, Thun und Wollen: unsere Begierde, unser Wille selbst zur Erkenntnis ist ein Symptom einer ungeheuren décadence. Wir streben nach dem Gegentheil von Dem, was starke Rassen, starke Naturen wollen, – das Begreifen ist ein Ende …
Daß Wissenschaft möglich ist in diesem Sinne, wie sie heute geübt wird, ist der Beweis dafür, daß alle elementaren Instinkte, Nothwehr- und Schutz-Instinkte des Lebens nicht mehr fungiren. Wir sammeln nicht mehr, wir verschwenden die Kapitalien der Vorfahren, auch noch in der Art, wie wir erkennen –
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69.
Nihilistischer Zug
a) in den Naturwissenschaften (»Sinnlosigkeit« –); Causalismus, Mechanismus. Die »Gesetzmäßigkeit« ein Zwischenakt, ein Überbleibsel.
b) Insgleichen in der Politik: es fehlt einem der Glaube an sein Recht, die Unschuld; es herrscht die Lügnerei, die Augenblicks-Dienerei.
c) Insgleichen in der Volkswirthschaft: die Aufhebung der Sklaverei: Mangel eines erlösenden Standes, eines Rechtfertigers, – Heraufkommen des Anarchismus. »Erziehung«?
d) Insgleichen in der Geschichte: der Fatalismus, der Darwinismus; die letzten Versuche, Vernunft und Göttlichkeit hineinzudeuten, mißrathen. Sentimentalität vor der Vergangenheit; man ertrüge keine Biographie! – (Der Phänomenalismus auch hier: Charakter als Maske; es giebt keine Thatsachen.)
e) Insgleichen in der Kunst: Romantik und ihr Gegenschlag (Widerwille gegen die romantischen Ideale und Lügen). Letzterer, moralisch, als Sinn größerer Wahrhaftigkeit, aber pessimistisch. Die reinen »Artisten« (gleichgültig gegen den Inhalt). (Beichtvater-Psychologie und Puritaner-Psychologie, zwei Formen der psychologischen Romantik: aber auch noch ihr Gegenschlag, der Versuch sich rein artistisch zum »Menschen« zu stellen, – auch da wird noch nicht die umgekehrte Werthschätzung gewagt!)
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70.
Gegen die Lehre vom Einfluß des Milieu’s und der äußeren Ursachen: die innere Kraft ist unendlich überlegen; Vieles, was wie Einfluß von Außen aussieht, ist nur ihre Anpassung von Innen her. Genau dieselben Milieu’s können entgegengesetzt ausgedeutet und ausgenützt werden: es giebt keine Thatsachen. – Ein Genie ist nicht erklärt aus solchen Entstehungs-Bedingungen –
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71.