an Allem etwas zu verachten! Es ist die Philosophie der Enttäuschung, die sich hier so human in Mitleiden einwickelt und süß blickt.
Das sind Romantiker, denen der Glaube flöten gieng: nun wollen sie wenigstens noch zusehen, wie Alles läuft und verläuft. Sie nennen’s l’art pour l’art, »Objektivität« u. s. w.
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82.
Haupt-Symptome des Pessimismus: – die diners chez Magny; der russische Pessimismus (Tolstoi, Dostoiewsky); der ästhetische Pessimismus, l’art pour l’art, »description« (der romantische und der antiromantische Pessimismus); der erkenntnißtheoretische Pessimismus (Schopenhauer; der Phänomenalismus); der anarchistische Pessimismus; die »Religion des Mitleids«, buddhistische Vorbewegung; der Cultur-Pessimismus: (Exotismus, Kosmopolitismus); der moralistische Pessimismus: ich selber.
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83.
»Ohne den christlichen Glauben, meinte Pascal, werdet ihr euch selbst, ebenso wie die Natur und die Geschichte, un monstre et un chaos.« Diese Prophezeiung haben wir erfüllt: nachdem das schwächlich-optimistische achtzehnte Jahrhundert den Menschen verhübscht und verrationalisirt hatte.
Schopenhauer und Pascal, – In einem wesentlichen Sinne ist Schopenhauer der Erste, der die Bewegung Pascal’s wieder aufnimmt: un monstre et un chaos, folglich Etwas, das zu verneinen ist … Geschichte, Natur, der Mensch selbst!
»Unsre Unfähigkeit, die Wahrheit zu erkennen, ist die Folge unsrer Verderbniß, unsres moralischen Verfalls«: so Pascal. Und so im Grunde Schopenhauer. »Je tiefer die Verderbniß der Vernunft, umso nothwendiger die Heilslehre« – oder, Schopenhauerisch gesprochen, die Verneinung.
Schopenhauer als Nachschlag (Zustand vor der Revolution): – Mitleid, Sinnlichkeit, Kunst, Schwäche des Willens, Katholicismus der geistigsten Begierden – das ist gutes achtzehntes Jahrhundert au fond.
Schopenhauers Grundmißverständniß des Willens (wie als ob Begierde, Instinkt, Trieb das Wesentliche am Willen sei) ist typisch: Wertherniedrigung des Willens bis zur Verkennung. Insgleichen Haß gegen das Wollen; Versuch, in dem Nicht-mehr-wollen, im »Subjektsein ohne Ziel und Absicht« (im »reinen willensfreien Subjekt«) etwas Höheres, ja das Höhere, das Werthvolle zu sehen. Großes Symptom der Ermüdung oder der Schwäche des Willens: denn dieser ist ganz eigentlich Das, was die Begierden als Herr behandelt, ihnen Weg und Maaß weist …
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85.
Man hat den unwürdigen Versuch gemacht, in Wagner und Schopenhauer Typen der geistig Gestörten zu sehen: eine ungleich wesentlichere Einsicht wäre gewonnen, den Typus der décadence, den Beide darstellen, wissenschaftlich zu präcisiren.
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86.
Henrik Ibsen ist mir sehr deutlich geworden. Mit all seinem robusten Idealismus und »Willen zur Wahrheit« hat er sich nicht von dem Moral-Illusionismus frei zu machen gewagt, welcher »Freiheit« sagt und nicht sich eingestehen will, was Freiheit ist: die zweite Stufe in der Metamorphose des »Willens zur Macht« seitens Derer, denen sie fehlt. Auf der ersten verlangt man Gerechtigkeit von Seiten Derer, welche die Macht haben. Auf der zweiten sagt man »Freiheit«, d. h. man will »loskommen« von Denen, welche die Macht haben. Auf der dritten sagt man »gleiche Rechte«, d. h. man will, so lange man noch nicht das Übergewicht hat, auch die Mitbewerber hindern, in der Macht zu wachsen.
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87.
Niedergang des Protestantismus: theoretisch und historisch als Halbheit begriffen. Thatsächliches Übergewicht des Katholizismus; das Gefühl des Protestantismus so erloschen, daß die stärksten antiprotestantischen Bewegungen nicht mehr als solche empfunden werden (zum Beispiel Wagner’s Parsifal). Die ganze höhere Geistigkeit in Frankreich ist katholisch im Instinkt; Bismarck hat begriffen, daß es einen Protestantismus gar nicht mehr giebt.
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88.
Der Protestantismus, jene geistig unreinliche und langweilige Form der décadence, in der das Christenthum sich bisher im mediokren Norden zu conserviren gewußt hat: als etwas Halbes und Complexes werthvoll für die Erkenntniß, insofern es Erfahrungen verschiedener Ordnung und Herkunft in den gleichen Köpfen zusammenbrachte.
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89.
Was hat der deutsche Geist aus dem Christenthum gemacht! – Und daß ich beim Protestantismus stehen bleibe: wie viel Bier ist wieder in der protestantischen Christlichkeit! Ist eine geistig verdumpftere, faulere, gliederstreckendere Form des Christen-Glaubens noch denkbar, als die eines deutschen Durchschnitts-Protestanten? … Das nenne ich mir ein bescheidnes Christentum! eine Homöopathie des Christentums nenne ich’s! – Man erinnert mich daran, daß es heute auch einen unbescheidnen Protestantismus giebt, den der Hofprediger und antisemitischen Spekulanten: aber Niemand hat noch behauptet, daß irgend ein »Geist« auf diesen Gewässern »schwebe« … Das ist bloß eine unanständigere Form der Christlichkeit, durchaus noch keine verständigere …
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90.
Fortschritt. – Daß wir uns nicht täuschen! Die Zeit läuft vorwärts, – wir möchten glauben, daß auch Alles, was in ihr ist, vorwärts läuft, – daß die Entwicklung eine Vorwärts-Entwicklung ist … Das ist der Augenschein, von dem die Besonnensten verführt werden. Aber das neunzehnte Jahrhundert ist kein Fortschritt gegen das sechszehnte: und der deutsche Geist von 1888 ist ein Rückschritt gegen den deutschen Geist von 1788 … Die »Menschheit« avancirt nicht, sie existirt nicht einmal. Der Gesammt-Aspekt ist der einer ungeheuren Experimentir-Werkstätte, wo Einiges gelingt, zerstreut durch alle Zeiten, und Unsägliches mißräth, wo alle Ordnung, Logik, Verbindung und Verbindlichkeit fehlt. Wie dürften wir verkennen, daß die Heraufkunft des Christentums eine décadence-Bewegung ist? … Daß die deutsche Reformation eine Recrudescenz der christlichen Barbarei ist? … Daß die Revolution den Instinkt zur großen Organisation der Gesellschaft zerstört hat? … Der Mensch