Tentativen, die gemacht worden sind, das 18. Jahrhundert zu überwinden:
Napoleon, indem er den Mann, den Soldaten und den großen Kampf um Macht wieder aufweckte – Europa als politische Einheit concipirend;
Goethe, indem er eine europäische Cultur imaginirte, die die volle Erbschaft der schon erreichten Humanität macht.
Die deutsche Cultur dieses Jahrhunderts erweckt Mißtrauen – in der Musik fehlt jenes volle, erlösende und bindende Element Goethe –
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105.
Das Übergewicht der Musik in den Romantikern von 1830 und 1840. Delacroix. Ingres, ein leidenschaftltcher Musiker (Cultus für Gluck, Haydn, Beethoven, Mozart) sagte seinen Schülern in Rom »si je pouvais vous rendre tous musiciens, vous y gagneriez comme peintres« –; insgleichen Horace Vernet, mit einer besonderen Leidenschaft für den Don Juan (wie Mendelssohn bezeugt 1831); insgleichen Stendhal, der von sich sagt: Combien de lieues ne ferais-je pas à pied, et à combien de jours de prison ne me soumetterais-je pas pour entendre *Don Juan ou le Matrimonio segreto; et je ne sais pour quelle autre chose je ferais cet effort.* Damals war er 56 Jahre alt.
Die entliehenen Formen, z. B. Brahms als typischer »Epigone«, Mendelssohn’s gebildeter Protestantismus ebenfalls (eine frühere »Seele« wird nachgedichtet …)
– die moralischen und poetischen Substitutionen bei Wagner, die eine Kunst als Nothbehelf für Mängel in der anderen,
– der »historische Sinn«, die Inspiration durch Dichten, Sagen,
– jene typische Verwandlung, für die unter Franzosen G. Flaubert, unter Deutschen Richard Wagner das deutlichste Beispiel ist, wie der romantische Glaube an die Liebe und die Zukunft in das Verlangen zum Nichts sich verwandelt, 1830 in 1850.
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106.
Warum culminirt die deutsche Musik zur Zeit der deutschen Romantik? Warum fehlt Goethe in der deutschen Musik? Wie viel Schiller, genauer wie viel »Thekla« ist dagegen in Beethoven!
Schumann hat Eichendorff, Uhland, Heine, Hoffmann, Tieck in sich. Richard Wagner hat Freischütz, Hoffmann, Grimm, die romantische Sage, den mystischen Katholicismus des Instinkts, den Symbolismus, die »Freigeisterei der Leidenschaft« (Rousseau’s Absicht). Der »Fliegende Holländer« schmeckt nach Frankreich, wo le ténébreux 1830 der Verführer-Typus war.
Cultus der Musik, der revolutionären Romantik der Form. Wagner resümirt die Romantik, die deutsche und die französische –
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107.
Richard Wagner bleibt, bloß in Hinsicht auf seinen Werth für Deutschland und deutsche Cultur abgeschätzt, ein großes Fragezeichen, ein deutsches Unglück vielleicht, ein Schicksal in jedem Falle: aber was liegt daran? Ist er nicht sehr viel mehr, als bloß ein deutsches Ereigniß? Es will mir sogar scheinen, daß er nirgendswo weniger hingehört als nach Deutschland: Nichts ist daselbst auf ihn vorbereitet, sein ganzer Typus steht unter Deutschen einfach fremd, wunderlich, unverstanden, unverständlich da. Aber man hütet sich, das sich einzugestehen: dazu ist man zu gutmüthig, zu viereckig, zu deutsch. »Credo quia absurdus est«: so will es und wollte es auch in diesem Falle der deutsche Geist – und so glaubt er einstweilen Alles, was Wagner über sich selbst geglaubt haben wollte. Der deutsche Geist hat zu allen Zeiten in psychologicis der Feinheit und Divination ermangelt. Heute, wo er unter dem Hochdruck der Vaterländerei und Selbstbewunderung steht, verdickt und vergröbert er sich zusehends; wie sollte er dem Problem Wagner gewachsen sein! –
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108.
Die Deutschen sind noch Nichts, aber sie werden Etwas; also haben sie noch keine Cultur, – also können sie noch leine Cultur haben! – Sie sind noch Nichts: das heißt sie sind Allerlei. Sie werden Etwas: das heißt sie hören einmal auf, Allerlei zu sein. Das letzte ist im Grunde nur ein Wunsch, kaum noch eine Hoffnung; glücklicherweise ein Wunsch, auf dem man leben kann, eine Sache des Willens, der Arbeit, der Zucht, der Züchtung so gut als eine Sache des Unwillens, des Verlangens, der Entbehrung, des Unbehagens, ja der Erbitterung, – kurz, wir Deutschen wollen Etwas von uns, was man von uns noch nicht wollte – wir wollen Etwas mehr!
Daß diesem »Deutschen, wie er noch nicht ist« – etwas Besseres zukommt, als die heutige deutsche »Bildung«; daß alle »Werdenden« ergrimmt sein müssen, wo sie eine Zufriedenheit auf diesem Bereiche, ein dreistes »Sich-zur-Ruhe-setzen« oder »Sich-selbst-anräuchern« wahrnehmen: das ist mein zweiter Satz, über den ich auch noch nicht umgelernt habe.
c) Anzeichen der Erstarkung.
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109.
Grundsatz: es giebt etwas von Verfall in Allem, was den modernen Menschen anzeigt: aber dicht neben der Krankheit stehen Anzeichen einer unerprobten Kraft und Mächtigkeit der Seele. Dieselben Gründe, welche die Verkleinerung der Menschen hervorbringen, treiben die Stärkeren und Seltneren bis hinauf zur Größe.
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110.
Gesammt-Einsicht: der zweideutige Charakter unsrer modernen Welt, – eben dieselben Symptome könnten auf Niedergang und auf Stärke deuten. Und die Abzeichen der Stärke, der errungenen Mündigkeit könnten auf Grund überlieferter ( zurückgebliebener) Gefühls-Abwerthung als Schwäche mißverstanden werden. Kurz, das Gefühl, als Werthgefühl, ist nicht auf der Höhe der Zeit.
Verallgemeinert: Das Werthgefühl ist immer rückständig, es drückt Erhaltungs-, Wachsthums-Bedingungen einer viel früheren Zeit aus: es kämpft gegen neue Daseinsbedingungen an, aus denen es nicht gewachsen ist und die es nothwendig mißversteht: es hemmt, es weckt Argwohn gegen das Neue …
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111.
Das Problem des neunzehnten Jahrhunderts. Ob seine starke und schwache Seite zu einander gehören? Ob es aus Einem Holze geschnitzt ist? Ob die Verschiedenheit seiner Ideale, und deren Widerspruch, in einem höheren Zwecke bedingt ist: als etwas Höheres? – Denn es könnte die Vorbestimmung zur Größe sein, in diesem Maße in heftiger Spannung zu wachsen. Die Unzufriedenheit, der Nihilismus könnte ein gutes