moralische Verwerflichkeit des Menschen schien Rousseau zu präoccupiren; man kann mit den Worten »ungerecht«, »grausam« am meisten die Instinkte der Unterdrückten aufreizen, die sich sonst unter dem Bann des vetitum und der Ungnade befinden: sodaß ihr Gewissen ihnen die aufrührerischen Begierden widerräth. Diese Emancipatoren suchen vor Allem Eins: ihrer Partei die großen Accente und Attitüden der höheren Natur zu geben.
*
100.
Rousseau: die Regel gründend auf das Gefühl; die Natur als Quelle der Gerechtigkeit; der Mensch vervollkommnet sich in dem Maaße, in dem er sich der Natur nähert (– nach Voltaire in dem Maaße, in dem er sich von der Natur entfernt). Dieselben Epochen für den Einen die des Fortschritts der Humanität, für den Andern Zeiten der Verschlimmerung von Ungerechtigkeit und Ungleichheit.
Voltaire noch die umanità, im Sinne der Renaissance begreifend, insgleichen die virtù (als »hohe Cultur«), er kämpft für die Sache der »honnêtes gens« und »de la bonne compagnie«, die Sache des Geschmacks, der Wissenschaft, der Künste, die Sache des Fortschritts selbst und der Civilisation.
Der Kampf gegen 1760 entbrannt: der Genfer Bürger und le seigneur de Ferney. Erst von da an wird Voltaire der Mann seines Jahrhunderts, der Philosoph, der Vertreter der Toleranz und des Unglaubens (bis dahin nur un bel esprit). Der Neid und der Haß auf Rousseau’s Erfolg trieb ihn vorwärts, »in die Höhe«.
Pour »la canaille« un dieu rémunérateur et vengeur – Voltaire.
Kritik beider Standpunkte in Hinsicht auf den Werth der Civilisation. Die sociale Erfindung die schönste, die es für Voltaire giebt: es giebt kein höheres Ziel, als sie zu unterhalten und zu vervollkommnen; eben Das ist die honnêteté, die socialen Gebräuche zu achten; Tugend ein Gehorsam gegen gewisse nothwendige »Vorurtheile« zu Gunsten der Erhaltung der »Gesellschaft«. Cultur-Missionär, Aristokrat, Vertreter der siegreichen, herrschenden Stände und ihrer Werthungen. Aber Rousseau blieb Plebejer, auch als homme de lettres, das war unerhört; seine unverschämte Verachtung alles Dessen, was nicht er selbst war.
Das Krankhafte an Rousseau am meisten bewundert und nachgeahmt. (Lord Byron ihm verwandt; auch sich zu erhabenen Attitüden aufschraubend, zum rancunösen Groll; Zeichen der »Gemeinheit«; später, durch Venedig in’s Gleichgewicht gebracht, begriff er, was mehr erleichtert und wohlthut, … l’insouciance.)
Rousseau ist stolz in Hinsicht aus Das, was er ist, trotz seiner Herkunft; aber er geräth außer sich, wenn man ihn daran erinnert…
Bei Rousseau unzweifelhaft die Geistesstörung, bei Voltaire eine ungewöhnliche Gesundheit und Leichtigkeit. Die Rancune des Kranken; die Zeiten seines Irrsinns auch die seiner Menschenverachtung und seines Mißtrauens.
Die Vertheidigung der Providenz durch Rousseau (gegen den Pessimismus Voltaire’s): er brauchte Gott, um den Fluch auf die Gesellschaft und die Civilisation werfen zu können; Alles mußte an sich gut sein, da Gott es geschaffen; nur der Mensch hat den Menschen verdorben. Der »gute Mensch« als Naturmensch war eine reine Phantasie; aber mit dem Dogma von der Autorschaft Gottes etwas Wahrscheinliches und Begründetes.
Romantik à la Rousseau: die Leidenschaft (»das souveräne Recht der Passion«); die »Natürlichkeit«; die Fascination der Verrücktheit (die Narrheit zur Größe gerechnet); die unsinnige Eitelkeit des Schwachen; die Pöbel-Rancune als Richterin (»in der Politik hat man seit hundert Jahren einen Kranken als Führer genommen«)
*
101.
Kant: macht den erkenntnißtheoretischen Skepticismus der Engländer möglich für Deutsche:
1) indem er die moralischen und religiösen Bedürfnisse der Deutschen für denselben interessirt: so wie aus gleichem Grunde die neueren Akademiker die Skepsis benutzten als Vorbereitung für den Platonismus (vide Augustin); so wie Pascal sogar die moralistische Skepsis benutzte, um das Bedürfniß nach Glauben zu excitiren (»zu rechtfertigen«);
2) indem er ihn scholastisch verschnörkelte und verkräuselte und dadurch dem wissenschaftlichen Form-Geschmack der Deutschen annehmbar machte (denn Locke und Hume an sich waren zu hell, zu klar, d. h. nach deutschen Werthinstinkten geurtheilt »zu oberflächlich« –).
Kant: ein geringer Psycholog und Menschenkenner; grob fehlgreifend in Hinsicht auf große historische Werthe (französische Revolution); Moral-Fanatiker à la Rousseau; mit unterirdischer Christlichkeit der Werthe; Dogmatiker durch und durch, aber mit einem schwerfälligen Überdruß an diesem Hang, bis zum Wunsche, ihn zu tyrannisiren, aber auch der Skepsis sofort müde; noch von keinem Hauche kosmopolitischen Geschmacks und antiker Schönheit angeweht … ein Verzögerer und Vermittler, nichts Originelles (– so wie Leibnitz zwischen Mechanik und Spiritualismus, wie Goethe zwischen dem Geschmack des 18. Jahrhunderts und dem des »historischen Sinnes« (– der wesentlich ein Sinn des Exotismus ist), wie die deutsche Musik zwischen französischer und italienischer Musik, wie Karl der Große zwischen imperium Romanum und Nationalismus vermittelte, überbrückte, – Verzögerer par excellence).
*
102.
Inwiefern die christlichen Jahrhunderte mit ihrem Pessimismus stärkere Jahrhunderte waren als das 18. Jahrhundert – entsprechend das tragische Zeitalter der Griechen –.
Das 19. Jahrhundert gegen das 18. Jahrhundert. Worin Erbe, – worin Rückgang gegen dasselbe (: »geist«loser, geschmackloser), – worin Fortschritt über dasselbe (: düsterer, realistischer, stärker).
*
103.
Was bedeutet daß, daß wir die Campagna romana nachfühlen? Und das Hochgebirge? Chateaubriand 1803 in einem Brief an M. de Fontanes giebt den ersten Eindruck der Campagna romana.
Der Präsident de Brosses sagt von der Campagna romana: «il fallait que Romulus fût ivre, quand il sougea à bâtir une ville dans un terrain aussi laid.«