Gesellschaft verboten ist und üblen Ruf macht: ebenso steht es mit Büchern, mit Musik, mit Politik, mit der Schätzung des Weibes.
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120.
Die Vernatürlichung des Menschen im 19. Jahrhundert (– das 18. Jahrhundert ist das der Eleganz, der Feinheit und der sentiments généreux). – Nicht »Rückkehr zur Natur«: denn es gab noch niemals eine natürliche Menschheit. Die Scholastik un- und wider-natürlicher Werthe ist die Regel, ist der Anfang; zur Natur kommt der Mensch nach langem Kampfe, – er kehrt nie »zurück« … Die Natur: d. h. es wagen, unmoralisch zu sein wie die Natur.
Wir sind gröber, direkter, voller Ironie gegen generöse Gefühle, selbst wenn wir ihnen unterliegen.
Natürlicher ist unsre erste Gesellschaft, die der Reichen, der Müßigen: man macht Jagd auf einander, die Geschlechtsliebe ist eine Art Sport, bei dem die Ehe ein Hinderniß und einen Reiz abgiebt; man unterhält sich und lebt um des Vergnügens willen; man schätzt die körperlichen Vorzüge in erster Linie, man ist neugierig und gewagt.
Natürlicher ist unsre Stellung zur Erkenntniß; wir haben die Libertinage des Geistes in aller Unschuld, wir hassen die pathetischen und hieratischen Manieren, wir ergötzen uns am Verbotensten, wir wüßten kaum noch ein Interesse der Erkenntniß), wenn wir uns auf dem Wege zu ihr zu langweilen hätten.
Natürlicher ist unsre Stellung zur Moral. Principien sind lächerlich geworden; Niemand erlaubt sich ohne Ironie mehr von seiner »Pflicht« zu reden. Aber man schätzt eine hülfreiche, wohlwollende Gesinnung (– man sieht im Instinkt die Moral und dédaignirt den Rest. Außerdem ein paar Ehrenpunkts-Begriffe –).
Natürlicher ist unsre Stellung in politicis: wir sehen Probleme der Macht, des Quantums Macht gegen ein anderes Quantum. Wir glauben nicht an ein Recht, das nicht auf der Macht ruht, sich durchzusetzen: wir empfinden alle Rechte als Eroberungen.
Natürlicher ist unsre Schätzung großer Menschen und Dinge: wir rechnen die Leidenschaft als ein Vorrecht, wir finden Nichts groß, wo nicht ein großes Verbrechen einbegriffen ist; wir concipiren alles Groß-sein als ein Sich-außerhalb-stellen in Bezug auf Moral.
Natürlicher ist unsre Stellung zur Natur: wir lieben sie nicht mehr um ihrer »Unschuld«, »Vernunft«, »Schönheit« willen, wir haben sie hübsch »verteufelt« und »verdummt«. Aber statt sie darum zu verachten, fühlen wir uns seitdem verwandter und heimischer in ihr. Sie aspirirt nicht zur Tugend: wir achten sie deshalb.
Natürlicher ist unsre Stellung zur Kunst: wir verlangen nicht von ihr die schönen Scheinlügen u. s. w.; es herrscht der brutale Positivismus, welcher constatirt, ohne sich zu erregen.
In summa: es giebt Anzeichen dafür, daß der Europäer des 19. Jahrhunderts sich weniger seiner Instinkte schämt; er hat einen guten Schritt dazu gemacht, sich einmal seine unbedingte Natürlichkeit, d. h. seine Unmoralität einzugestehen, ohne Erbitterung: im Gegentheil, stark genug dazu, diesen Anblick allein noch auszuhalten.
Das klingt in gewissen Ohren, wie als ob die Corruption fortgeschritten wäre: und gewiß ist, daß der Mensch sich nicht der »Natur« angenähert hat, von der Rousseau redet, sondern einen Schritt weiter gethan hat in der Civilisation, welche er perhorrescirte. Wir haben uns verstärkt: wir sind dem 17. Jahrhundert wieder näher gekommen, dem Geschmack seines Endes namentlich (Dancourt, Lesage, Regnard).
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121.
Cultur contra Civilisation. – Die Höhepunkte der Cultur und der Civilisation liegen auseinander: man soll sich über den abgründlichen Antagonismus von Cultur und Civilisation nicht irre führen lassen. Die großen Momente der Cultur waren immer, moralisch geredet, Zeiten der Corruption; und wiederum waren die Epochen der gewollten und erzwungenen Thierzähmung des Menschen (»Civilisation« –) Zeiten der Unduldsamkeit für die geistigsten und kühnsten Naturen. Civilisation will etwas Anderes, als Cultur will: vielleicht etwas Umgekehrtes …
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122.
Wovor ich warne: die décadence-Instinkte nicht mit der Humanität zu verwechseln;
:die auflösenden und nothwendig zur *décadence treibenden Mittel* der Civilisation nicht mit der Cultur zu verwechseln;
:die Libertinage, das Princip des »laisser aller«, nicht mit dem Willen zur Macht zu verwechseln (– er ist dessen Gegenprincip).
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123.
Die unerledigten Probleme, die ich neu stelle: das Problem der Civilisation, der Kampf zwischen Rousseau und Voltaire um 1760. Der Mensch wird tiefer, mißtrauischer, »unmoralischer«, stärker, sich-selbst-vertrauender – und insofern »natürlicher«: das ist »Fortschritt«. – Dabei legen sich, durch eine Art von Arbeitstheilung, die verböserten Schichten und die gemilderten, gezähmten auseinander: sodaß die Gesammtthatsache nicht ohne Weiteres in die Augen springt …
Es gehört zur Stärke, zur Selbstbeherrschung und Fascination der Stärke, daß diese stärkeren Schichten die Kunst besitzen, ihre Verböserung als etwas Höheres empfinden zu machen. Zu jedem »Fortschritt« gehört eine Umdeutung der verstärkten Elemente in’s »Gute«.
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124.
Daß man den Menschen den Muth zu ihren Naturtrieben wiedergiebt –
Daß man ihrer Selbstunterschätzung steuert ( nicht der des Menschen als Individuums, sondern der des Menschen als Natur …) –
Daß man die Gegensätze herausnimmt aus den Dingen, nachdem man begreift, daß wir sie hineingelegt haben –
Daß man die Gesellschafts-Idiosynkrasie aus dem Dasein überhaupt herausnimmt (Schuld, Strafe, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Freiheit, Liebe u. s. w.) –
Fortschritt zur »Natürlichkeit«: in allen politischen Fragen, auch im Verhältniß von Parteien, selbst von merkantilen oder Arbeiter- oder Unternehmer-Parteien, handelt es sich um Machtfragen – »was man kann« und erst daraufhin,