käme. Dies habe ich begriffen.
*
113.
A
Von einer vollen herzhaften Würdigung unsrer jetzigen Menschheit auszugehen: – sich nicht durch den Augenschein täuschen lassen: diese Menschheit ist weniger »effektvoll«, aber sie giebt ganz andere Garantien der Dauer, ihr Tempo ist langsamer, aber der Takt selbst ist viel reicher. Die Gesundheit nimmt zu, die wirklichen Bedingungen des starken Leibes werden erkannt und allmählich geschaffen, der »Asketismus« ironice –. Die Scheu vor Extremen, ein gewisses Zutrauen zum »rechten Weg«, keine Schwärmerei; ein zeitweiliges Sich-Einleben in engere Werthe (wie »Vaterland«, wie »Wissenschaft« u.s.w.).
Dies ganze bild wäre aber immer noch zweideutig: – es könnte eine aufsteigende oder aber eine absteigende Bewegung des Lebens sein.
B
Der Glaube an den »Fortschritt« – in der niederen Sphäre der Intelligenz erscheint er als aufsteigendes Leben: aber das ist Selbsttäuschung;
in der höheren Sphäre der Intelligenz als absteigendes.
Schilderung der Symptome.
Einheit des Gesichtspunktes: Unsicherheit in Betreff der Werthmaaße.
Furcht vor einem allgemeinen »Umsonst«.
Nihilismus.
*
114.
Thatsächlich haben wir ein Gegenmittel gegen den ersten Nihilismus nicht mehr so nöthig: das Leben ist nicht mehr dermaaßen ungewiß, zufällig, unsinnig in unserem Europa. Eine solch ungeheure Potenzirung vom Werth des Menschen, vom Werth des Übels u.s.w. ist jetzt nicht so nöthig, wir ertragen eine bedeutende Ermäßigung dieses Werthes, wir dürfen viel Unsinn und Zufall einräumen: die erreichte Macht des Menschen erlaubt jetzt eine Herabsetzung der Zuchtmittel, von denen die moralische Interpretation das stärkste war. »Gott« ist eine viel zu extreme Hypothese.
*
115.
Wenn irgend Etwas unsre Vermenschlichung, einen wahren tatsächlichen Fortschritt bedeutet, so ist es, daß wir keine excessiven Gegensätze, überhaupt keine Gegensätze mehr brauchen …
wir dürfen die Sinne lieben, wir haben sie in jedem Grade vergeistigt und artistisch gemacht;
wir haben ein Recht auf alle die Dinge, die am schlimmsten bisher verrufen waren.
*
116.
Die Umlehrung der Rangordnung. – Die frommen Falschmünzer, die Priester, werden unter uns zu Tschandala’s: – sie nehmen die Stellung der Charlatans, der Quacksalber, der Falschmünzer, der Zauberer ein: wir halten sie für Willens-Verderber, für die großen Verleumder und Rachsüchtigen des Lebens, für die Empörer unter den Schlechtweggekommenen. Wir haben aus der Dienstboten-Kaste, den Sudra’s, unfern Mittelstand gemacht, unser »Volk«, das, was die politische Entscheidung in den Händen hat.
Dagegen ist der Tschandala von Ehemals obenauf: voran die Gotteslästerer, die Immoralisten, die Freizügigen jeder Art, die Artisten, die Juden, die Spielleute, – im Grunde alle verrufenen Menschenklassen –.
Wir haben uns zu ehrenhaften Gedanken emporgehoben, mehr noch, wir bestimmen die Ehre auf Erden, die »Vornehmheit« … Wir Alle sind heute die Fürsprecher des Lebens –. Wir Immoralisten sind heute die stärkste Macht: die großen andern Mächte brauchen uns … wir construiren die Welt nach unserm Bilde –.
Wir haben den Begriff »Tschandala« auf die Priester, Jenseits-Lehrer und die mit ihnen verwachsene christliche Gesellschaft übertragen, hinzugenommen was gleichen Ursprungs ist, die Pessimisten. Nihilisten, Mitleids-Romantiker, Verbrecher, Lasterhaften, – die gesammte Sphäre, wo der Begriff »Gott« als Heiland imaginirt wird …
Wir sind stolz darauf, keine Lügner mehr sein zu müssen, keine Verleumder, keine Verdächtiger des Lebens …
*
117.
Fortschritt des neunzehnten Jahrhunderts gegen das achtzehnte (– im Grunde führen wir guten Europäer einen Krieg gegen das achtzehnte Jahrhundert –):
1) »Rückkehr zur Natur« immer entschiedener im umgekehrten Sinne verstanden, als es Rousseau verstand; – weg vom Idyll und der Oper!
2) immer entschiedener antiidealistisch, gegenständlicher, furchtloser, arbeitsamer, maßvoller, mißtrauischer gegen plötzliche Veränderungen, antirevolutionär;
3) immer entschiedener die Frage der Gesundheit des Leibes der »der Seele« voranstellend: letztere als einen Zustand in Folge der ersteren begreifend, diese mindestens als die Vorbedingung der Gesundheit der Seele.
*
118.
Wenn irgend Etwas erreicht ist, so ist es ein harmloseres Verhalten zu den Sinnen, eine freudigere, wohlwollendere, Goethischere Stellung zur Sinnlichkeit; insgleichen eine stolzere Empfindung in Betreff des Erkennens: sodaß der »reine Thor« wenig Glauben findet.
*
119.
Wir »Objektiven«. – Das ist nicht das »Mitleid«, was uns die Thore zu den fernsten und fremdesten Arten Sein und Cultur aufmacht; sondern unsre Zugänglichkeit und Unbefangenheit, welche gerade nicht »mitleidet«, sondern im Gegentheil sich bei hundert Dingen ergötzt, wo man ehedem litt (empört oder ergriffen war, oder feindselig und kalt blickte –). Das Leiden in allen Nuancen ist uns jetzt interessant: damit sind wir gewiß nicht die Mitleidigeren, selbst wenn der Anblick des Leidens uns durch und durch erschüttert und zu Thränen rührt: – wir sind schlechterdings deshalb nicht hülfreicher gestimmt.
In diesem freiwilligen Anschauen-wollen von aller Art Noth und Vergehen sind wir stärker und kräftiger geworden, als es das 18. Jahrhundert war; es ist ein Beweis unseres Wachsthums an Kraft (– wir haben uns dem 17. und 16. Jahrhundert genähert). Aber es ist ein tiefes Mißverständniß, unsre »Romantik«