denn die Vorsehung giebt allen Dingen ihr bestimmtes Maaß, und ihre Handlungen sind nicht unvollkommen.“
Bei Plethon und Psellos (bei letzterem Aph. 29):
„Erweitere nicht dein Schicksal.“
Der anonyme Kommentator erklärt diesen Aphorismus allgemein moralisierend und sagt, daß diese Mahnung diejenigen angehe, welche mit der ihnen im Leben angewiesenen Stellung unzufrieden seien und wähnen, daß sie selber ihr Schicksal machen und die Beschlüsse der Gottheit verbessern könnten. Psellos und Plethon fassen das Schicksal (εἱμαρμενη, fatum, des Grundtextes) im landläufigen Sinn auf und sagen, es sei thöricht, durch Wünsche und Gebete die unabwendbaren Beschlüsse der Gottheit abändern zu wollen.
Die zweite Hälfte des vierten Aphorismus der ersten Fassung bildet in der Reihenfolge Plethons den fünften und lautet hier:
„Denn es geht nichts Unvollkommenes vom Vater der Seelen aus.“
Der Kommentar dazu sagt:
„Du bist nicht im Stande, dein Erdenlos zu verbessern, denn alle Ereignisse geschehen nach naturgemäßem Lauf, und es ist eines die Folge des andern bis zum Zeitpunkt der Schöpfung zurück; alle Begebenheiten greifen harmonisch in einander, nirgends nimmt man einen Zufall wahr. Wo ist also Unvollkommenheit?“
Dieser wie der fünfte Aphorismus der ersten oder der sechste der Plethonischen Fassung fehlt bei Psellos. Bei dem fünften (sechsten) Aphorismus zeigt sich jedoch recht deutlich, daß die auf uns gekommenen Fassungen Varianten eines alten, verloren gegangenen Originals sind. Derselbe lautet in der ersten Fassung:
„Der Seelen Vater gestattet nicht solche Ausschweifungen des Eigenwillens;“
bei Plethon:
„Er kann nicht auf deine Wünsche achten, so lange die Binde der Vergessenheit deinen Blick umschleiert, bis endlich diese fallen wird, und das heilige Zeichen des Vaters sich deinem Gedächtniß einprägt.“
Was bei Plethon Text ist, wird in der ersten Fassung ähnlich im Kommentar gesagt, denn daselbst heißt es:
„Erst dann wird unsere Seele sich freier bewegen, wenn sie die Binde der Vergessenheit ihrer himmlischen Heimath zugleich mit den Banden des sie umnachtenden Leibes abgestreift hat. Dann besitzt sie wieder das Vermögen, in die tiefste Vergangenheit und in die ernste Zukunft zu blicken. Aber es kann dieses Vermögen auch schon bei Lebzeiten des Leibes zum Theil erreicht werden, wenn man sich eines heiligen Wandels befleißigt und gewisse magische Sprüche erlernt hat, welche dem Reinen die Pforten der Geisterwelt öffnen.“
Plethon kommentiert:
„Die Vergessenheit der früheren Zustände (Incarnationen) ist eine Folge der Verbindung der Seele mit dem Leibe. Erst nach der Auflösung des letzteren wird ihr Blick wieder freier, und sie begreift nun auch, indem sie ihres früheren Seins wieder bewußt wird, daß ihr Schicksal auf der Erde nur die notwendige Folge ihrer Handlungen und deshalb unabänderlich war.[226] Die freigewordene Seele ist alsdann wieder gottähnlich und allwissend; das ist das Zeichen des Vaters, welches ihr Gedächtniß auffrischt.“
Der sechste Aphorismus der ersten Fassung ist bei Psellos der sechzehnte und bei Plethon der siebente. Sein Wortlaut in den drei Redaktionen ist der Reihenfolge nach:
1. „Eile, daß du zum Urlicht zurückkehrst, zum Glanze deines himmlischen Erzeugers, von dem deine Seele ausgeflossen ist.“
2. „Das Göttliche erfülle deine Seele!
Den Blick zum Himmel stets gewendet!“[227]
3. „Eile zum Licht des Vaters, von welchem deine Seele ausgeflossen ist.“
Der Anonymus und Plethon deuten diesen Spruch übereinstimmend dahin, daß die Gottheit das höchste Licht, und in diese Lichtheimat zurückzukehren das einzige Verlangen der Seele sein müsse. Psellos dagegen sagt etwas abweichend:
„Die Seele entwickelt drei Kräfte: Verstand, Gedächtniß und Urtheilskraft; diese drei Potenzen vereinige, um über das Wesen der Gottheit nachzudenken und sich mit dieser zu vereinigen.“
Bis hierher haben wir in der Aufeinanderfolge der Aphorismen einen gewissen Zusammenhang beobachten können. Jetzt aber folgt ein dem Sinn nach gar nicht verwandter Spruch, was auf einen verloren gegangenen Teil des den drei Bearbeitungen zu Grunde liegenden Originals deutet. Dieser in der ersten Fassung als siebenter folgende Aphorismus ist bei Psellos der achtundzwanzigste und bei Plethon der achte. Sein Wortlaut ist der Reihenfolge nach:
1. „Jene beweint die Erde sammt ihren Kindern.“
2. „Die Erde klagt fortwährend über sie und ihre Kinder.“
3. „Sie beweint die Erde und mit ihnen zugleich ihre Kinder.“
Plethon kommentiert diesen Spruch folgendermaßen:
„Diejenigen, welche dieser Mahnung nicht folgen, werden von der Erde beklagt. Unter der Erde ist aber hier die irdische Natur verstanden, welche eine Folge der Unvollkommenheit ist, denn das irdische Leben ist eine Strafe. Darum beweint die Erde auch die Kinder der Unvollkommenheit, denn die Eltern pflanzen ihre sündhaften Begierden auf die Kinder fort; die Tugendhaften befleißigen sich eines keuschen Wandels.“
Während also Plethon obigen Spruch mit Bezugnahme auf die Reincarnations- und Vererbungstheorie deutet, so kommentieren ihn der Anonymus und Psellos nur in Hinsicht auf die Wiederverkörperung. Ich kann ihre Aussprüche hier übergehen.
Der nächste Aphorismus, ebenfalls ohne Zusammenhang mit den übrigen, findet sich nur in der ersten Fassung und lautet:
„Die Ausklopfer der Seele, welche ihr aufzuathmen möglich machen, sind auflösender Art.“
Der Kommentar sagt:
„Unter den ‚Ausklopfern der Seele‘, welche hier unter dem Bilde eines Kleides eingeführt sind, werden die Vernunftgründe verstanden, welche, wenn sie Eingang in die Seele finden, den Staub der Leidenschaften und alle bösen Neigungen aus ihr heraustreiben. Ihre auflösende Art besteht darin, daß sie von den Schlacken reinigen, welche die Seele von ihrer Hülle, der unreinen Materie, an sich zieht.“
Ich bemerke hierzu, daß auch die Kabbala das Bild von den „Ausklopfern der Seele“ kennt, welche der Seele im Moment des Todes den letzten schweren „Grabschlag“ (Chibbut Hakkeber) erteilen. Da die Kabbala zum großen Teil im Zoroastrismus wurzelt, so ist diese Stelle ein Beweis für das hohe Alter unserer Aphorismen.
Der neunte auch zusammenhanglose Aphorismus, bei Psellos der zwölfte und bei Plethon ebenfalls der neunte lautet:
1. „Auf der linken Seite ist der Sitz der tugendhaften Begierden.“
2. „Der Tugend Quell ist auf der linken Seite der Hekate. Jungfräulichkeit bewahre.“
3. „Auf der linken Seite ist der Tugend Quell, bewahre die Jungfräulichkeit.“
Alle drei Kommentatoren betrachten diesen Spruch als Keuschheitsgebot und sagen, daß die linke Seite als Sitz der Tugend betrachtet werde, weil auf ihr das Herz liege; die rechte Seite sei wegen Anwesenheit der Leber der Sitz der Begierden.
Der zehnte Aphorismus der ersten Fassung findet sich in allen drei Bearbeitungen, er ist bei Psellos der fünfzehnte und bei Plethon ebenfalls der zehnte und hat der Reihe nach folgenden Wortlaut:
1. „Die Seele strebe danach, sich mit dem Göttlichen zu verbinden. Hat sie sich dadurch von den Einflüssen der Materie frei gemacht, so wird sie von Gott durchdrungen sein.“
2. „Die Seele trachte gottberauscht zu sein,
Was irdisch und gebrechlich von sich thuend.“
3. „Die Seele des Menschen strebe, das Göttliche in sich zu behalten.“
Der erste Kommentar sagt sehr dürftig, die Seele könne des Göttlichen nicht voll sein, ohne zuvor die irdischen Gelüste abgelegt zu haben.
Psellos