ganz allein in Anspruch genommen wird. Unter den Dichtern war es Klopstock, der sein Gefühl, das noch immer am liebsten bei den ernsten, erhabenen Gegenständen der Religion verweilte, am meisten befriedigte. Seinen eignen Genuß an diesen Werken suchte er auch seiner ältesten Schwester wenigstens in dem Maße zu verschaffen, als es durch briefliche Mitteilung in Erklärung der schönsten und schwersten Stellen möglich war. In seiner jugendlichen Unschuld, den hohen Stand noch gar nicht ahnend, zu dem ihn die Vorsehung erwählt und mit allen ihren göttlichen Gaben so überschwenglich reich beteilt hatte, konnte er wohl öfters die entschiedene Neigung für dichterische oder andere Geisteswerke als eine bloße Belustigung für seine Phantasie betrachten und sich Vorwürfe darüber machen, wenn dadurch so manche Stunde seinem Berufsstudium entzogen wurde. Aber eine innere, beruhigende Stimme rief ihm dann zu: ist der große Arzt, der große Naturforscher Haller nicht auch zugleich ein großer Dichter? Wer besang die Wunder der Schöpfung schöner und herrlicher als Haller?
»Du hast den Elefant aus Erde aufgetürmt,
Und seinen Knochenberg beseelt,«
war ein Ausdruck, den Schiller nebst so vielen andern dieses Dichters nicht nur damals, sondern auch dann noch mit Bewunderung anführte, als seine erste Jugendzeit längst verflogen war.
Jedoch nicht nur das Beispiel Hallers erleichterte ihm die Selbstentschuldigung wegen seines Hangs für die Dichtkunst, sondern es waren in der Abteilung, in welche er jetzt versetzt war, noch mehrere Zöglinge, die eine gleiche Leidenschaft für Genüsse des Geistes und Gemütes hatten, unter denen sich Petersen Hoven, Massenbach und andere als Dichter oder Schriftsteller später bekannt gemacht haben. Je erkünstelter der Fleiß war, mit dem diese jungen Leute ihr Hauptstudium trieben, je gieriger suchten sie Erholung in dichterischen Werken, von denen endlich die von Goethe und Wieland ihnen die liebsten waren. Ihre natürlichen Anlagen verleiteten sie, bei dem bloßen Lesen und Genießen nicht stehen zu bleiben, sondern ihre Kräfte auch an eignen Aufsätzen oder poetischen Darstellungen zu versuchen. Und daß keiner seine Arbeit den anderen verheimlichte; daß jeder mit größter Offenheit getadelt oder gelobt wurde; daß diese Jünglinge sich in ungewöhnlichen oder verwegenen Dichtungen zu überbieten suchten, war eine natürliche Folge ihrer Jahre und des Zwanges, dem sie unterworfen waren. Die gleiche Lieblingsneigung, die sie nur verstohlenerweise befriedigen durften, die gleiche Subordination, unter die sie ihren Willen beugen mußten, ketteten sie so fest aneinander, daß sie in der Folge sich nie trafen, ohne ihre Freude durch die fröhlichste Laune, oft durch wahren Jubel zu bezeugen.
Unter allen diesen Schriften aber machten diejenigen, die für das Theater geschrieben waren, den meisten Eindruck auf den jungen Schiller. Jede Handlung im ganzen, jede Szene im einzelnen weckte in ihm eine der schlummernden Kräfte, deren die Natur für diese Dichtungsart so viele in ihn gelegt hatte, und die so reizbar waren, daß er mit einem dramatischen Gedanken nur angehaucht zu werden brauchte, um sogleich in Flammen der Begeisterung aufzulodern. In seinem zehnten Jahre hatte er zwar schon in Ludwigsburg Opern gesehen, die der Herzog mit allem Pomp, mit aller Kunst damaliger Zeit aufführen ließ. So neu und wundervoll dem empfänglichen Knaben der schnelle Wechsel prachtvoller Dekorationen, das Anschauen künstlicher Elefanten, Löwen etc., die Aufzüge mit Pferden, das Anhören großer Sänger, von einem trefflichen Orchester begleitet, der Anblick von Balletten, die von Noverre eingerichtet, von Vestris getanzt wurden – so sehr dieses alles, vereinigt, ihn auch außer sich versetzen mußte, so hatte es doch nur die äußern Sinne des Auges, des Ohres berührt, aber Gefühl und Gemüt weder angesprochen noch befriedigt. Dagegen waren Julius von Tarent, Ugolino, Götz von Berlichingen und, einige Jahre vor seinem Austritt, alle Stücke von Shakespeare diejenigen Werke, welche mit allen seinen Gedanken und Empfindungen so übereinstimmten, seines Geistes sich dergestalt bemeisterten, daß er schon in seinem siebzehnten Jahre sich an dramatische Versuche wagte und das später so berühmte Trauerspiel, die Räuber, zu entwerfen anfing. Gaben die genannten Schriften seiner Vorliebe für dramatische Poesie schon überflüssige Nahrung, so wurde seine Neigung, sowie für schöne Kunst überhaupt, schon dadurch unterhalten und bestärkt, daß er mit jenen Zöglingen, die sich für die Bühne, die Tonkunst oder Malerei bestimmt hatten, im genauen Umgange stand. Denn so streng auch in dieser Akademie darauf gehalten wurde, daß jeder die Gegenstände seines künftigen Berufes auf das gründlichste erlerne, so war, wenn diesen Forderungen Genüge geleistet wurde, der Umgang der Zöglinge untereinander gar nicht so beschränkt, daß sie ihre freien Stunden nicht hätten nach ihrem Willen benützen dürfen, wenn dieser die allgemeine Ordnung nicht störte. Auch war es denjenigen unter ihnen, die Gefallen daran fanden, alle Jahre einigemal erlaubt, Theaterstücke in einem akademischen Saale aufzuführen, bei denen aber die weiblichen Rollen gleichfalls von Jünglingen besetzt werden mußten. Schiller konnte dem Drange nicht widerstehen, sich auch als Schauspieler zu versuchen, und übernahm im Clavigo eine Rolle, die er aber so darstellte, daß sein Spiel noch lange nachher sowohl ihm als seinen Freunden reichen Stoff zum Lachen und zur Satire verschaffte.
Es konnte jedoch nicht anders kommen, als daß diese dichterischen Zerstreuungen nur zum Nachteil seiner medizinischen Studien genossen wurden, und daß er manchen Verdruß mit seinem Hauptmann sowie öfters Vorwürfe von seinen Professoren sich zuzog, wenn er das aufgegebene Pensum nicht gehörig abgearbeitet hatte.
Und dennoch, sowohl aus Liebe zu seinen Eltern, denen er Freude zu machen wünschte, als aus Ehrgeiz und edlem Stolze, war sein Fleiß aufrichtiger und größer als der seiner Mitschüler. Aber geschah es denn mit seinem Willen, daß ihn mitten im eifrigsten Lernen Bilder überraschten, die mit denen, die das Buch darbot, nicht die mindeste Ähnlichkeit hatten! – War es seine Schuld, daß er anatomische Zeichnungen, Präparate, fast unmöglich in ihrer eingeschränkten Beziehung betrachten konnte, sondern seine Phantasie sogleich in dem Großen, Allgemeinen der ganzen Natur umherschweifte? Oder konnte er es seiner ihm so treu anhänglichen Muse verwehren, daß sie selbst in den Kollegien, wenn er mit tiefsinnigem Blick auf den Professor horchte, ihm etwas zuflüsterte, was seine Ideen von dem Vortrage wegriß und seinen Geist auch den ernstlichsten Vorsätzen entgegen in dichterische Gefilde leitete? – Nichts von allem diesem. Ganz unfreiwillig mußte er sich diesen Störungen unterwerfen. Wie durch eine zauberische Gewalt herbeigeführt, gärten in seinem Innern Bilder und Entwürfe, die immer stärker andrängten, je mehr der Mann sich in ihm entwickelte und seine Vorstellungen sich bereicherten.
Er selbst sah sehr gut ein, daß er bei diesem nicht ungeteilten Treiben seiner Berufswissenschaft sehr spät das Ziel erreichen würde, welches er sich vorgesetzt hatte, und ob auch seine Lehrer die treffenden Bemerkungen und Antworten von ihm weit höher als den mechanischen Fleiß der andern achteten, so stellte er doch zu große Forderungen an sich selbst, als daß ihm seine bisherigen Fortschritte hätten genügen können. Er beschloß daher in seinem achtzehnten Jahre, so lange nichts anderes, als was die Medizin betreffe, zu lesen, zu schreiben oder auch nur zu denken, bis er sich das Wissenschaftliche davon ganz zu eigen gemacht hätte. Der ungeheuern Überwindung, die es ihn anfangs kostete, ungeachtet, verfolgte er diesen Vorsatz mit solcher Festigkeit und studierte die ärztlichen Werke von Haller mit so viel unausgesetztem Eifer, daß er schon nach Verlauf von kaum drei Monaten eine Prüfung darüber bestehen konnte, von welcher er die größten Lobsprüche einerntete. Diese außerordentliche Anstrengung, bei welcher er sich auch den kleinsten Genuß, selbst ein aufmunterndes Gespräch versagte, hatte zwar etwas nachteilig auf seinen Körper gewirkt, dagegen aber ihn mit der Wissenschaft dergestalt vertraut gemacht, daß er nun mit größter Leichtigkeit auf die Anwendung derselben sowohl in ihren verschiedenen Fächern als in der Heilkunde selbst übergehen konnte.
Das höchste Opfer, welches er seinem künftigen Berufe bringen mußte, war eine so lange dauernde Entsagung der Dichtkunst, die bei ihm schon zur Leidenschaft geworden war. Aber er hatte sich von der Geliebten ja nur entfernt! Untreu konnte er ihr niemals werden; denn so wie er den Grad des Wissens, der ihn zum Meister der Arzneikunde machen sollte, einmal erobert hatte, kehrte er mit allem Feuer ungestillter Sehnsucht in die Arme der Göttin zurück und benutzte jeden freien Augenblick zur Ausarbeitung seines angefangenen Trauerspiels. Auch dichtete er außer vielen andern Sachen in diesem Zeitpunkt eine Oper, Semele, die so großartig gedacht war, daß, wenn sie hätte aufgeführt werden sollen, alle mechanische Kunst des Theaters damaliger Zeit (und man darf sagen, auch der jetzigen) nicht ausgereicht haben würde, um sie gehörig darzustellen.