Leni Behrendt

Leni Behrendt Staffel 5 – Liebesroman


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Mensch zu leben beginnen. Du kannst doch nicht immer ein Schattendasein führen.«

      »Warum, Tante Marga? Es ist doch wunderschön, so dahinzuduseln und nichts mehr vom Leben zu verlangen noch zu erwarten.«

      »Und das sagt man mit zwanzig Jahren? Willst du mir nicht sagen, was damals war – an deinem Hochzeitstag, ehe du zusammenbrachst? Hast du die Unterredung deines Gatten mit seinem Freund mitangehört?«

      »Ja – alles.«

      »Das dachten wir uns; denn du hast in deinen Fieberphantasien ja so viel ausgeplaudert. Willst du dir nicht dein Leid vom Herzen sprechen, mein Kind? Glaube mir, du wirst dich freier fühlen. Außerdem steht die Beantwortung meiner Frage noch aus: Was weißt du von der Vergangenheit deines Gatten?«

      »Tante Marga, du quälst mich maßlos!« stöhnte sie verzweifelt. »Wie soll ich darüber sprechen, was mir das Herz gebrochen hat? Es tut alles noch so entsetzlich weh.«

      »Nur ein einziges Mal sprich darüber, was dich quält – dann will ich nie mehr daran rühren.«

      »Es ist so schwer –«

      »Schadet nichts. Ich werde fragen, und du wirst antworten. Was weißt du von Jobsts Vergangenheit?«

      »Was Mutti mir erzählte. Daß er von seiner Frau geschieden war, die dann mit dem Söhnchen verunglückte – und daß er dann eine zweite Frau nahm. Und da er mich heiraten konnte, so muß er wieder geschieden oder verwitwet gewesen sein. Das ist alles.«

      »So hat er dir bei seiner Werbung nichts davon gesagt?«

      »Nein, Tante Marga, er warb ja mit einer barmherzigen Lüge um eine Halbtote!«

      »Sölve!« rief Frau Fröse erschrocken: »Was hast du dir da alles zusammengereimt! Diese ›Halbtote‹ hat in deinen Fieberphantasien schon eine ungeheure Rolle gespielt. Was hat das zu bedeuten?«

      »Herr von Jührich machte Jobst ziemliche Vorhaltungen, daß er eine ›Halbtote‹ geheiratet hat!«

      »Sprich nicht weiter, Kind. Jetzt höre mich bitte an:

      Wenn du über alles nachdenkst und gerecht bleibst, dann mußt du dir selbst sagen, daß du damals tatsächlich eine Todgeweihte warst. Du hast in deinen Fieberphantasien immer so verzweifelt herausgeschrien: Er liebt mich nicht, er hat mich belogen!

      Ja, Sölve, sollte er dir sagen, daß er dich nur darum heiratete, um dir eine Heimat zu geben, damit du wenigstens in Ruhe sterben könntest? Da mußte er schon auf deine Frage, ob er dich liebt, zu der barmherzigen Lüge greifen und dich in dem Glauben lassen. Er wußte genau, was dir blühen würde, wenn er wegging und dir nicht unantastbare Rechte hier verschaffte. Diesem Mann müßtest du dankbar sein, mein Kind, und nicht in Groll an ihn denken. Was wäre, wenn er dich nicht geheiratet hätte? Dann würdest du hier nicht so weich und warm sitzen, würdest hier nicht die Herrin sein. Verrenne dich nicht in ein Leid, das keines ist. Ich will dir erzählen, was richtiges Leid bedeutet und wie aufrecht die Menschen es getragen haben:

      Nachdem Jobst durch deine Mutter so bitteres Herzeleid erfahren, war er gleichgültig geworden und nahm die Frau, die ihm seine Eltern aussuchten. Da sein ältester Bruder gefallen war, wurde er Uhlens Erbherr und dadurch zur Heirat verpflichtet. Die Frau war eine junge Gräfin – blutjung, kultiviert, verzogen und launenhaft, unberechenbar und kapriziös wie eine Primadonna. So ein rechtes Sprühteufelchen, reizend und gutherzig wie ein Kind, sofern man ihr den Willen tat. Stieß sie jedoch auf Widerstand, dann konnte sie toben wie eine kleine Wildkatze.

      Nach einem Ehejahr wurde der kleine Erbherr geboren, und die Zeit bis zu seiner Geburt war arg genug für uns alle. Aber wir sahen dem unbeherrschten Geschöpf alles nach, weil es wirklich zu leiden hatte. Und als der kleine Erbe dann endlich geboren wurde – war es ein Krüppel, mit verkümmerten Beinchen.

      Das kleine Kerlchen war ein liebes Kind, herzfroh wie ein Vögelein, daß es bald der Liebling aller wurde. Und sonderbarerweise hing die junge Mutter sehr an ihm, wie man es bei dieser flatterhaften, verspielten Frau nicht hätte vermuten dürfen.

      Doch der Leidenskelch der schicksalsgeschlagenen Familie war noch immer nicht geleert. Sie mußte erleben, wie die junge Baronin auf Abwege geriet, wie es zur Scheidung kam – und wie sie den damals dreijährigen Jungen, der vom Gericht dem Vater zugesprochen worden war, heimlich fortholte und ihn und sich bei der halsbrecherischen Flucht mit dem Auto in den Tod fuhr.

      Obgleich man sich sagen mußte, daß es für den kleinen Krüppel so am besten war, gab es viel Trauer um ihn, und in Uhlen verstummte das Lachen, das überhaupt schon eine Seltenheit geworden war.

      Nach einem Jahr heiratete der junge Baron wieder. Diesmal hatte er das ganze Gegenteil erwählt: Ein Mädchen, wirtschaftlich erzogen und von robuster, blühender Gesundheit. Nach menschlichem Ermessen mußte man mit einem solchen Menschenkind eine gute Ehe führen können –

      Allein, sie wurde noch schlechter als die erste. Nun, sie war ja nicht umsonst die Schwester Frau Fränzes und die Tante Walburgas, die ihr getreues Ebenbild ist.

      Nach eineinhalb Jahren wurde ein Töchterchen geboren, noch elender und hilfloser, als der kleine Knabe es gewesen war. Der konnte wenigstens die Glieder, außer den Beinchen bewegen. Doch dieses Würmchen ist vollständig hilflos, weil das Rückgrat nicht in Ordnung sein soll. Daß die junge Mutter gleich nach der Geburt starb, ging keinem nahe.

      Das kleine Geschöpf rief wieder unsagbaren Jammer hervor. Man stand vor einem Rätsel, wie eine so blühende, gesunde Frau so ein armseliges Kind gebären konnte. Also mußte die Schuld bei dem Vater zu suchen sein. Denn es kann schon vorkommen, daß ein verkrüppeltes Kind von erbgesunden Eltern zur Welt kommt – Aber zwei derartige Kinder von zwei verschiedenen Frauen?

      Dieser Gedanke nahm von Jobst immer mehr Besitz, so daß er sich fest entschloß, nicht noch einmal zu heiraten. Mochte das jahrhundertealte Geschlecht lieber aussterben, als solch kümmerliche Blüten treiben. Mochte Uhlen also an einen gesunden und intelligenten Erben kommen, damit ein neues, erbgesundes Geschlecht heranwüchse. So verfiel er wohl auf den Sohn seines Vetters Ragnitz. Aber daß er alle Hoffnungen, die Jobst auf ihn gesetzt hat, erfüllen wird, ist eigentlich ausgeschlossen. Und wenn er wirklich der Erbe Uhlens sein sollte, dann gnade uns allen Gott. Mit Schrecken denke ich an die Testamentseröffnung, die ein Jahr nach dem Tode Jobsts, also in sechs Monaten, stattfinden soll.«

      Nach dieser Erzählung war es minutenlang totenstill. Sölve lag regungslos. Nur die Augen schienen in diesem marmorweißen Antlitz zu leben.

      Dann warf sie sich plötzlich herum und weinte auf – heiß, leidenschaftlich, hemmungslos, als müßten diese Tränen alles hinwegspülen, was ihr das Leben so lange zur Qual gemacht hatte.

      *

      Du treues Vermächtnis, wie

      liebe ich dich,

      wie will ich dich hegen und pflegen.

      Und erbitte für dich

      und auch für mich

      dazu des Himmels Segen.

      Von dem Tage an machte die Genesung Sölves rapide Fortschritte. Es war, als hätten die heißen Tränen wirklich alles hinweggespült, was ihrer Gesundung bisher hemmend im Wege gestanden hatte. Nach einigen Wochen hatte sie sich schon so gut erholt, daß alle, die kamen, um sich von dem Wunder zu überzeugen, wie vor einem Rätsel standen.

      Und doch war das Rätsel so leicht zu lösen: Sölve wollte jetzt leben.

      Auch die beiden Ärzte, die sich mit der Kranken so große Mühe gegeben hatten, sahen die so wunderbar veränderte junge Frau mit fachmännischer Neugier an. Und als Frau Fröse erzählte, was diese Veränderung bewirkt habe, schüttelte Doktor Fels verblüfft den Kopf.

      »Gnädige Frau, Sie können mehr als ich!«

      In Kalmucken hatte die Veränderung Sölves gemischte Gefühle hervorgerufen. Der Hausherr freute sich ehrlich, Ricarda und Elwira jubelten, Walburga war es gleichgültig, die Zwillinge hatten Grund, eine Stunde lang darüber aufgeregt zu