Gustav Wied

Die Bosheit-Trilogie


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man nur im Sommer auf Praxis."

      "Aber mein Gott, was machten denn die armen Menschen im Winter?"

      "Sie starben natürlich."

      Der Kreisarzt hatte zehn Jahre in Grönland gelebt. Und er sah auf diesen Zeitraum wie auf ein Goldenes Zeitalter zurück. Er hegte und pflegte seine arktischen Erinnerungen; in seiner Wohnung lief ein Blaufuchs herum und an seinem Geburtstag aß er Seehundssteak.

      "Sie sollten sich einen Assistenten nehmen. Herr Doktor," sagte die Madam, "für die Nachtbesuche!"

      "So einen von diesen modernen Windbeuteln, hm!" murmelte er aus den Schals heraus. "Die bilden sich ein, alle Weisheit der Welt mit Löffeln gegessen zu haben, und dabei haben sie nie ein paar Kranke gesehen!"

      Dann standen sie einige Sekunden schweigend da. Über ihren Köpfen brüllte der Sturm.

      "Es ist auch wirklich ein Hundewetter", sagte die Madam endlich.

      "Um sich aufzuhängen!" murmelte der Distriktsarzt "hm! Dann muß ich wohl weiter."

      "Gute Nacht, Herr Doktor!"

      "Gute Nacht!"

      Als Madam Fredriksen zu Hause angelangt war und in ihrer offenen Haustür stand, hörte sie den Doktor an Konditor Lams Ecke fluchen und schimpfen. Wie Jakob ehedem mit dem Engel, so kämpfte er jetzt mit dem Sturm, der um die Ecke der Pfaffenstraße dahergefahren kam und sich gegen seine Brust stemmte und ihn umzuwerfen drohte. Sie hörte ihn alle unterirdischen Mächte mit Namen anrufen, von Sr. Majestät dem Satan bis hinab zu dem allergeringsten grönländischen Teufel, wobei er auf das Pflaster stampfte und schnob wie ein von einer Bremse gestochener Brauergaul.

      Und nun zum drittenmal an diesem Abend verzog unsere Madam die Lippen höhnisch mitleidig und murmelte: "O diese Männer!"

      Und dann schloß sie ihre Tür und drehte den Schlüssel herum.

      Als sie aber auf ihrem einsamen Lager lag, entfuhr ihr doch ein Seufzer.

      Denn sie war erst fünfunddreißig Jahre alt.

      Und Witwe.

      ###

      Drei Tage hatte das Wetter im Delirium gerast. Der Sturm hatte geheult und gebrüllt, Schornsteine umgeworfen, Telephonstangen abgebrochen, Dachpfannen zertrümmert und Regenschirme umgekippt. Und der Regen hatte den Kalk von der Mauer gewaschen und Kellergänge und Dielen in Seen verwandelt, in denen fröhliche Kinder herumwateten und Holzschuhe und Fußmatten angelten. Aber jetzt war der Anfall überstanden. Der Sturm hatte sich gelegt, um für das nächste Mal Kräfte zu sammeln; und die Regenwolken waren weggetrieben.

      Auf dem Lindenborger Kirchturm schlug es halb elf.

      Der Menschen-Mortensen zog ein ungeheures tombakenes Uhrwerk aus der Westentasche und öffnete den Deckel.

      Ja, es stimmte.

      Dann nahm er den Schlüssel, der mit einem Ende Bindfaden an der Uhr festgebunden hing und zog sie auf. Darauf hielt er sie ans Ohr und lauschte nachdenklich: "Dickedickedick – Dickedickedick!" sagte sie ein wenig hinkend, aber sehr regelmäßig. Mortensen nickte zufrieden, schloß den Deckel geräuschvoll und ließ die Uhr wieder in die Tasche gleiten.

      Er saß auf einem halbgefüllten Sack oben auf dem Mühlenboden. Und ein wenig von ihm entfernt, an der Erde, stand eine Laterne.

      Sie war natürlich besser als nichts, aber viel Licht gab sie nicht. Wohin ihr Schein fiel, sprangen die Balken und das Sparrenwerk vor, grauweiß und gepudert von dem Mehl wie alles hier oben in der Mühle.

      Mortensen selber saß im Dunkeln. Nur sein steifes Bein ragte in den Lichtkreis hinein.

      Das Wasser von der Mühlbrettrinne fiel über das Treibrad, und das Mühlwerk war im Gange.

      Der Menschen-Mortensen dachte daran, ein wenig zu schlummern. Er hatte eben Korn in den Behälter oben unter dem Dach geschüttet und die Räder frisch geschmiert. Nun konnte er ja die Augen immerhin ein klein wenig "wärmen", wie er es nannte.

      Er schloß die Augen, fing an, wie ein chinesischer Mandarin zu nicken, und blies die Luft geräuschvoll durch die Nase.

      Plötzlich aber richtete er sich auf und schob den Rücken in die Höhe; er bekam einen seiner bösen Hustenanfälle.

      "Ahem – ahem, – krrr!" sagte er. "Pfui Kuckuck! Der Teufel hol' meinen Husten!"

      Aus einer der Ecken war ein sommervergessener Nachtfalter emporgeflattert. Er schwirrte schwerfällig und schlaftrunken um die Laterne und stieß jeden Augenblick den Kopf gegen das Glas. Es klang, als kratze ein Nagel gegen eine Fensterscheibe.

      Eine Ratte huschte über den Fußboden. Und noch eine. Und noch eine. Ihre langen, unbehaarten Schwänze schleppten hinter ihnen drein, und ihre Augen zwinkerten aufmerksam. Die Schnauzen bewegten sich, sie witterten nach etwas Eßbarem. Da fand die eine einen winzig kleinen Talglichtstummel der in die Ritzen zwischen zwei Fußbodendielen getreten war. Das war ein Leckerbissen! Aber sofort kamen zwei andere darüber zugestürzt. Es entstand eine Schlägerei. Mortensen rührte sich. Und wupp! waren die Tiere in der Dunkelheit verschwunden.

      Aber um die Laterne herum setzte der Nachtschwärmer unverdrossen seine fruchtlosen Angriffe fort.

      "Mortensen," flüsterte eine Stimme.

      "Ahem, ahem, krrr! – Der Teufel hol' meinen Husten!" murmelte der Alte im Schlaf.

      "Mortensen!"

      "Ja!" sagte Mortensen, der jetzt ganz wach geworden war, und starrte verwirrt nach der Treppe, von woher die Stimme kam.

      "Bist du allein, Mortensen?"

      Der Alte reckte seinen langen Vogelhals aus.

      "Wer ist da?" fragte er.

      Die Tür unten an der Treppe knarrte.

      "Ich bin es!"

      Schleichende Schritte kamen die Stufen hinan, und ein Kopf ward sichtbar.

      "Wer ist da?" wiederholte Mortensen lauter und machte mit dem steifen Bein Anstalten, sich zu erheben. "Was wollt Ihr hier zu nachtschlafender Zeit?"

      Die Person stand jetzt auf der obersten Stufe. Es war Manuel Thummelumsen.

      Er hatte den Hut tief in die Augen gedrückt. Der Rockkragen war in die Höhe geklappt, und er hatte einen kleinen Hausindustriekoffer in der Hand.

      "Du bist es, Manuel?" sagte der Alte überrascht.

      "Ja!"

      "Willst du nach Amerika?" fragte Mortensen und zeigte mit dem Daumen auf den Koffer.

      "Ist Cornelius nach Hause gekommen?" Manuel tat, als habe er den Witz des andern nicht gehört.

      "Ja, er liegt seit über einer Stunde auf seinen Frikandellen."

      "War er betrunken?"

      "Betrunken? Der? Nein, er war schweinemäßig besoffen! Die Frau mußte ihn ins Bett hineindirigieren. Und nun liegt er da und schnarcht ärger als eine Katze. Wär' es nicht um deinetwillen, Manuel, und dann auch um meiner selbst willen, so blieb ich hier nicht die Woche zu Ende."

      "Hm!" sagte Manuel, er stand da und betrachtete die alten Stätten sinnend. "Das sind noch dieselben Steine."

      "Ja, die Ware wird auch danach! Wenn es Mehl sein soll, so werden es Graupen, und wenn es Graupen sein sollen, so werden es Pfeffernüsse."

      "Habt ihr viel zu tun?"

      "Hm – ja, es kommt so stoßweise."

      "Auf