nun doch muß, Marie!"
"Aber kannst du denn nicht ebensogut hier in der Stadt bleiben?"
"Hier ist ja keine Arbeit zu finden, das habe ich dir doch gesagt."
"Ach Gott, ach Gott – Und mich hast du nun ins Unglück gebracht!"
"Stell' dich doch nicht so an, Dirn! Daran haben wir wohl beide gleich viel Schuld!"
Madam Fredriksen konnte nicht mehr an sich halten.
"Was ist denn hier los?" fragte sie und wehte heran.
Das Mädchen barg ihr Gesicht in den Händen und konnte vor Weinen nicht sprechen. Aber der Mann, ein junger, bartloser Bursche, sah trotzig auf. Er war blaß und erbittert, und seine Augen schimmerten in dem flackernden Licht der Gaslaterne.
"Was wollen Sie?"
"Aber das ist ja der Mangel-Karen ihr Niels Peter!" sagte die Madam und bekreuzigte sich.
"Ja, was soll das? Was geht das Sie an?!"
"Und hast schon das Unglück eines Menschen auf dem Gewissen?"
Der Bursche sprang wutentbrannt von der Bank auf.
"Scheren Sie sich zum Teufel!" sagte er. "Was laufen Sie hier herum und stecken Ihre Nase in andrer Leute Angelegenheiten!"
"Niels Peter! Niels Peter!" schrie das Mädchen und schlang die Arme um ihn.
Niels Peter blieb ganz ruhig.
"Ich will der Madam ja nichts tun," sagte er, "wenn sie sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern will."
Madam Fredriksen stand einen Augenblick unschlüssig still. Sie empfand das Bedürfnis, einzuschreiten und ihre rückhaltlose Meinung zu äußern. Es kribbelte in ihr vor Wut. – Dann aber machte sie plötzlich linksum kehrt und entfernte sich.
Und von neuem begann das Mädchen zu flehen und zu schluchzen. Es klang so unendlich hoffnungslos durch das Brausen des Sturmes.
Die Madam wandte sich unwillkürlich um und blickte zurück.
"O diese Männer!" murmelt" sie und ließ empört die Mundwinkel hängen. – "Prügel sollten sie haben!"
Der Mond war durchgekommen. Es sah aus, als segelte er in rasender Eile über den Himmel dahin. Bald fuhr er in eine Wolke hinein, bald wieder aus ihr heraus. Die Telephondrähte sangen an ihren Stangen. Und große phantastische Wolken umtanzten die Kirche der Weißen Schwestern oben auf dem Hügel.
Die Uhr schlug ein Viertel auf zwei, als Madam Fredriksen aus dem Prinzessinnensteig in die Maren-Schmieds-Gasse bog.
Hier konnte sie sich verschnaufen, es war warm und geschützt. Man hörte nur den Sturm über die Dächer hinwegpoltern.
Und dann hörte man Rufen und Lachen und Gläserklirren aus "Stadt-Gammelkjöbing" herausklingen.
Es war Mitte Oktober. Die "Freßsäcke" feierten ihre erste Winterzusammenkunft.
Madam Fredriksen mußte auf dem gegenüberliegenden Trottoir stillstehen, denn die Fenster des Speisesaals waren weit geöffnet, und Tabakrauch und Weindunst strömten auf die Straße hinaus.
Und rings um den großen, jetzt abgedeckten Tisch saßen die munteren Brüder.
Ihre Gesichter schimmerten vor Fett und Freude. Ihre Augen glänzten. Und ihre Arme fochten demonstrativ in der Luft herum oder lagen vertraulich-liebevoll um die Schultern der Nachbarn geschlungen. Mitten auf dem Tisch thronte eine ungeheure Terrine mit Punsch, garniert mit Zigarrenkisten, Gläsern und Flaschen. Und die alten Herren riefen und schrien, sangen und lachten, so daß die wurmzerfressenen Zahnstummel zum Vorschein kamen und die breiten Bäuche schaukelten.
Redakteur Heilbunth lag in seinem Präsidentenstuhl oben an der Tafel. Er war in Hemdärmeln. Des Rockes hatte er sich schon längst entledigt, und die Knöpfe seiner Weste standen offen. Und hoch in der erhobenen Rechten hielt er das dampfende Punschglas.
"Wein, Weib und Gesang!" rief er, und sein Gesicht wurde rot wie ein Jahrmarktsballon. – "Wein, Weib und Gesang! – Es lebe der alte Martin Nonnenfreund!"
"Ja, ja!" brüllte Schlächtermeister Freisleben und schwang seinen Becher, "darauf kommt es an! Wein und Weiber! Prost, Herr Redakteur! Sie kaufen gewiß konservatives Fleisch, aber ich halte trotzdem Ihr Blatt!"
Und dann sang er:
"Die beste Frau kriegt man für einen Taler.
Für einen Taler,
Für einen Taler;
Die beste Frau kriegt man für –"
"Ja, denn die kann man doch wieder loswerden", schluchzte Stadtkassierer Lassen.
"Ja!" sagte Fabrikant Rössel. "Das ist ein wahres Wort! Es lebe die Frau!"
Er hatte den einen Arm um den Hals des Schlächtermeisters geschlungen und klopfte ihn zärtlich auf die Wange.
"Bist du nicht unsinnig froh, daß du heute abend mit dabei sein darfst, du Wursthacker?" fragte er.
"Ja, darauf kannst du Gift nehmen!" sagte der Schlächter, und seine Augen strahlten. Er war ein Novize, an Stelle des verflossenen Luxusbauches einballotiert; und es war das erstemal, daß er an einer Zusammenkunft teilnahm.
"Ich liebe dich, Rössel," sagte er, "ich liebe dich, als wenn du meine Mutter wärst."
Und in zwanglosem Entzücken schlang er die Arme um den Hals des Fabrikanten und küßte ihn mitten auf den Bart.
"Huh! Diese Männer!" sagte Madam Fredriksen draußen auf dem Trottoir. Und dann ging sie weiter.
Der Stadtkassierer Lassen richtete sich plötzlich in seinem Stuhl auf und starrte wild um sich.
"Konservatives Fleisch?" näselte er. Er pflegte in vorgeschrittener Abendstunde an Schlucken zu leiden und ein wenig schwer von Begriff zu sein. – "Wer – huggup – spricht da von konservativem Fleisch?"
Als ihm aber niemand antwortete, sank er wieder zurück.
Auch der gute Oberlehrer Clausen konnte einen späten Tropfen nicht vertragen. Aber bei ihm wirkte es in ganz anderer Weise: er wurde "mutig". Sein langer, rekeliger Körper wurde stramm, sein mildes, gutmütiges Gesicht nahm einen energischen Ausdruck an, und seine weiche Stimme bekam einen scharfen, eindringlichen Ton. Mit seinen wunderlich dünnen, bleichweißen Fingern, die aussahen wie Stangenspargel mit Anhängseln, strich er sich unablässig durch sein spärliches, graugesprenkeltes Haar, das sonst so zierlich mit Scheitel und Pomade frisiert war, so daß es schließlich ganz wild und borstig in die Höhe stand, wie die Stacheln eines südeuropäischen Stachelschweins.
Augenblicklich war er im Begriff, auf dem Wege der Suggestion etwas von seiner Urkraft auf den Zollkontrolleur Knagsted zu überführen, der ruhig und beherrscht, wohlgeborgen hinter seinen Haarzotteln neben ihm saß.
"Esau!" schrie der gewöhnlich so stille und vorsichtige Mann, indem er mahnend seine Stangenspargel auf die Schulter des Zöllners legte, – "Esau! – Ja, du weißt doch wohl, daß du Esau heißt?"
"Freilich weiß ich das!"
"Ich liebe dich wie einen Bruder, Esau!" fuhr der Oberlehrer mit begeisterter Rührung in Blick und Mienen fort, "wie einen Bruder – wie einen Freund! Du bist eine interessante Persönlichkeit. Du bist die interessanteste Persönlichkeit in der ganzen Stadt! – Aber du bist ohne Stärke, ohne seelische Spannkraft. Denn du besitzest kein Ideal, Esau Knagsted! – Und ohne Ideal kein Stützpunkt. Ohne Ideal kein Fundament. Ohne Ideal keine Widerstandskraft, – keine Lebensfreude, – ja, Lebensfreude! Und darauf wollten wir hinaus! – Schau'