am Leben bleibt!" sagte er.
– "Für Knors ist einem ja nicht bange, der hält schon aus. Aber der andere. – Man findet, daß er in letzter Zeit recht jämmerlich geworden ist."
"Ach nein, es ist wohl alles beim alten mit ihm –".
"Und fünfzehn Jahre haben sie nun hier gelebt und sich nach dem Mühlenhofe zurückgesehnt, ebenso wie wir selber", fuhr Thomsen elegisch fort. "Man hat gar manches Mal Mitleid mit ihnen gehabt. Und an den Möbeln konnten sie ja gar nicht einmal Freude haben –".
Er machte eine Handbewegung nach dem großen, altmodischen Mahagonisekretär, der blitzblank poliert unten im Hintergrunde des Zimmers nach der Küchenwand zu stand. Auf dem Sekretär lagen Donnerkeile, Versteinerungen und bunte Muscheln in kleine zierliche Haufen geordnet.
"Und das Bild können sie nicht verstehen, so wie wir!"
Das Bild war ein Gemälde in grellen Wasserfarben, das über dem Pfeifentisch in der Ecke hing. Es stellte ein schimmernd weißes Bauerngehöft mit safrangelbem Strohdach und grasgrünen Fenstern und Türen vor. Eine Reihe riesenhafter Bäume mit braunroten Stämmen und ungeheuren blaugrünen Blättern umgaben die Gebäude. Und rechts von der Einfahrt schnurrte ein Wasserrad, auf das eine wunderlich dickflüssige Masse herabstürzte, brausend, spritzend und schäumend wie ein Niagara, und mit einem Farbenton wie bläuliche Milch.
Das war der Mühlenhof, das Thomsensche Familiengut; und es war in der besten Absicht von Karens Bruder, dem Schullehrer und Küster in Grästed, gemalt und ihr ein Jahr nach ihrem und des Sohnes Umzug in die Stadt geschenkt worden.
Und es war der Gegenstand einer fast religiösen Verehrung.
Emanuel hatte eine Weile schweigend und grübelnd dagesessen. Jetzt erhob er sich plötzlich:
"Gesegnete Mahlzeit, Mutter!"
"Wohl bekomm's, mein Junge."
"Ja, dann geht man also hinaus und macht den Hofplatz rein."
"Tu du das, mein Junge."
Thomsen stellte das Kaffeegeschirr auf dem Präsentierteller zusammen, strich mit der hohlen Hand einige Krumen vom Sofa, zupfte ein wenig an der Tischdecke und ging dann durch die Küche hinaus:
"Man nimmt den Präsentierteller mit", sagte er.
"Danke, Manuel."
Madam Thomsen erhob ihr kleines, sanftes Gesicht von der Näharbeit und sah ihm nach. Dann schüttelte sie leise den Kopf und nähte weiter.
Im Ofen flammten die Holzscheite auf. Das Zimmer wurde immer wärmer. Und der Teekessel, der beständig in der Ofenröhre stand, fing an zu singen.
"Guten Morgen!" sagte Madam Thomsen plötzlich laut und freundlich und nickte und lächelte durchs Fenster. Eine von den Damen des Städtchens ging draußen auf dem Trottoir vorüber und grüßte herein.
Ein Holzscheit im Ofen sprang mit lautem Knall, und einige Funken sprühten durch die Ofenklappe.
"Aber mein Gott!" sagte die Alte und guckte ängstlich dahin.
Die Funken auf dem Fußboden erloschen schnell.
Aber so dunkel war es im Hintergrund des Zimmers, daß der Lichtschimmer des Ofens an der Wand hinaufflackerte und zwischen den alten, verschossenen Photographien spielte, die dort in zierlicher Ordnung hingen: eine große in der Mitte mit einem Kranz von kleineren ringsumher. Um den Rahmen der großen war ein Kranz von Immortellen geschlungen. Das war Großvater Thomsen: ein schöner alter Mann mit einem prächtigen weißen Bart, der ihm bis auf die Brust hinabreichte.
Dann fiel ein großes Stück Holz vor die Ofenklappe, und die Bilder hingen wieder im Dunkeln.
Madam Thomsen hatte die Näharbeit im Schoß ruhen lassen und sah nun da und starrte vor sich hin.
Sie dachte an Manuel und an seine fixe Idee:
Du lieber Gott, nun hatte sie bald fünfzehn Jahre hier in diesem netten, kleinen Haus gewohnt und sich darin zurechtgefunden und daran gewöhnt. Aber Manuel dachte ja an nichts anderes als an das Gehöft da draußen. Nie schweiften seine Gedanken davon ab. Was er tat und begann, immer lag ihm das Gehöft im Sinn. Sie durften sich kaum noch satt essen, nur damit er Geld beiseite legen konnte. Es war wirklich zur Verrücktheit bei ihm geworden, dieser Wunsch, das Gehöft wieder zu erlangen; er betrachtete es als Ehrensache! Er war ja nach außen immer sanft und demütig, inwendig aber war er so stolz wie ein Papst! Fleißig und akkurat war er, das mußte man ihm lassen; und reinlich! Beinahe zu reinlich, fand sie: und sie war doch ein Frauenzimmer. Und die Leute in der Stadt machten sich ja auch lustig über ihn. Manuel aber ging seinen ruhigen Weg und ließ sie reden – Ach, du lieber Gott, – es mochte ja ganz schön sein, wieder in die alten Räume zurückzukommen! Und die Mühle! Und der Garten! Aber wo wollte er nur das Geld hernehmen? Und er konnte das Gehöft ja nicht bewirtschaften; nein, das konnte er nicht! So lange sie lebte, konnte sie ja mit zugreifen und stützen und raten. Aber wenn sie einmal davon ging. – Ach ja, ach ja, Herr Gott ja! – Aber Manuel mußte wissen, was er tat!
Madam Thomsen griff kopfschüttelnd wieder zu ihrem Nähzeug, und die fleißigen Hände arbeiteten emsig weiter.
Das Geräusch des Fadens, der die steife Leinwand durchdrang, das einförmige Prasseln des Ofens und das leise Summen des Teekessels wirkten allmählich beschwichtigend auf ihre Gedanken.
Wenn von Zeit zu Zeit ein Wagen vorüberrumpelte, erzitterte freilich das ganze Haus, und die Steine und Muscheln auf dem Sekretär klirrten. Aber das störte sie jetzt nicht mehr wie in der ersten Zeit, als sie in die Stadt gezogen waren. Sie sah nur ganz mechanisch zwischen den Blumentöpfen hindurch nach dem Fuhrwerk, wandte dann den Kopf wieder um und nähte weiter.
Und aus dem alten Nähtisch, an dem sie saß, stieg ein würziger eingeschlossener Geruch von Lavendeln und Rosen auf. Und der Duft aus der Potpourridose auf dem Eckschrank ward stärker und stärker in dem Maße, wie die Wärme im Zimmer zunahm. Ihre Augenlider fielen halb zu, und die Hände sanken ihr in den Schoß. Dann setzte sie sich tiefer in den Stuhl zurück und stützte den Nacken gegen die Lehne.
Einen ganz kleinen Vormittagsschlaf konnte sie nicht entbehren, nein: Nur die Augen zwei Minuten schließen – hi, hi, ihr Mann hatte auch nie hier im Stuhl sitzen können, ohne einzunicken – des Mittags saß er da und – des Abends, und in der Dämmerstunde. – Und, – ja, ja, – das war dazumal, ja – und als er krank wurde. – Ob Manuel wohl daran gedacht hatte, das Bodenfenster zu schließen – falls Sturm kommen sollte, – und die Hühner hereinzulassen – und ob die Scheunentür wohl geschlossen war – Mäuse, – ja, zwei Mäuse in der Falle, – und – ja, ja –
Ein leises, schnarchendes Geräusch verriet, daß Madam Thomsen schlummerte. –
Da erscholl die Türklingel. Es kam eine Kundin.
Die Alte sprang ganz verwirrt vom Stuhle auf und rieb sich die Augen.
"Mein Gott!" sagte sie, fuhr hastig glättend über ihr Kleid und lief in den Laden hinaus.
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Der Hofplatz hinter Karen Thomsens Haus war sechs Ellen lang und fünf Ellen breit. Auf zwei Seiten wurde er von hohen Nachbarhäusern begrenzt und auf der dritten von einem niederen Holzschuppen mit schrägem Dach.
Dieser Schuppen wurde zur Aufbewahrung von Feuerung benutzt. Und dann standen noch einige Packkisten, darin ein Haufen eingepackter Möbel, sowie ein Sägebock und ein Hauklotz.
Die niedrige Tür stand offen, und Emanuel war eifrig mit dem Zerkleinern von Brennholz beschäftigt.
Es wurde immer heller im Hofe, je mehr die Sonne über dem großen Speicher in dem nach Osten gelegenen Nachbarhofe aufstieg.