Sohnes empfangen, da war es wohl natürlich, daß der jähe Tod des letzteren ihn aufregte, überdies hob gerade ihn natürlich sein geistlicher Stand über jeden Verdacht hinaus. Als man endlich nach stundenlangem Mühen und nicht ohne Lebensgefahr von unten her in die Schlucht gedrungen war und die Leiche nach N. brachte, war Günther mit den Seinigen längst abgefahren. Nahm man nun an, daß er auf dem Hinwege, den er allein unternahm – denn der Kutscher blieb mit den Pferden im Thale zurück – statt der Fahrstraße den Fußweg einschlug, daß er in der Nähe der Brücke mit dem Grafen zusammentraf, daß der seit jenem Briefe wahrscheinlich schon öfter ausgebrochene Streit sich hier erneute und in Thätlichkeiten ausartete, bei denen der Stärkere Sieger blieb, so hatte man auf einmal die Lösung des schreckensvollen Räthsels vor sich – es war genug, um ein sofortiges Einschreiten des Gerichts zu rechtfertigen.
In Dobra ahnte man inzwischen nichts von dem Unwetter, das sich dunkler und dunkler darüber zusammenzog, obgleich auch dorthin die Gerüchte über den Tod Ottfried’s gedrungen waren. Man hatte hier freilich keinen Grund, diesen Todesfall besonders zu beklagen, aber seine Folgen äußerten sich doch in einer Weise, die Bernhard sowohl als Franziska ebenso beängstigend als unerklärlich erschien.
Es war gegen Abend, als Günther in das erleuchtete Wohnzimmer trat, wo Fräulein Reich ihn allein am Theetisch erwartete.
„Wo ist Lucie?“ fragte er mit einem raschen Umblick durch das Gemach, in dem das junge Mädchen nicht zu entdecken war.
Franziska zuckte die Achseln und deutete auf das Nebenzimmer, dessen Thür geschlossen war.
„Lassen Sie sie allein, es ist am besten so! Sie erträgt den Zwang nicht, den unsere Nähe ihr auferlegt.“
Günther legte Hut und Handschuhe bei Seite und trat näher zum Tische, seine Stirn war umwölkt.
„Ich habe dem Kinde diese Tiefe der Empfindung nicht zugetraut, am allerwenigsten einem Manne wie dem Grafen gegenüber. Sie muß mit förmlicher Leidenschaft an ihm gehangen haben, daß ihr sein Tod mit solcher Verzweiflung an’s Herz greift.“
Franziska schüttelte den Kopf; sie wagte es jetzt freilich nicht mehr, ihre frühere Behauptung aufrecht zu erhalten, und doch stand die alte Ueberzeugung in ihr fester als je.
„Wenn es nur auch wirklich dieser Tod ist,“ sagte sie kurz, „und nicht am Ende nur die Umstände, die ihn begleiteten!“
Bernhard, der im Begriff war, sich niederzulassen, hielt plötzlich inne und blickte sie überrascht an.
„Wie meinen Sie?“
„Ich meine“ – die Gefragte warf einen Blick auf die Thür des Nebenzimmers und senkte dann die Stimme – „ich meine, daß mir aus Luciens ganzem Wesen weit weniger Schmerz als Angst zu sprechen scheint, geheime, mühsam verhaltene Angst. Ich fürchte, sie weiß mehr von der unglückseligen Geschichte als wir allesammt, die Herren vom Gericht mit eingeschlossen.“
„Unmöglich!“ erklärte Günther entschieden. „Sie war ja mit uns in N., als die That geschah. Freilich auch mir ist in ihrem Benehmen Manches dunkel! Ich habe sie bisher geschont, und die Schonung war auch nothwendig; jetzt aber wird doch nichts Anderes übrig bleiben, als daß ich einmal ernstlich mit ihr spreche und sie auf irgend eine Weise zum Antworten zwinge.“
Franziska machte eine halb verächtliche Bewegung. „Das versuchen Sie einmal! Auch nicht eine Silbe werden Sie ihr abzwingen! Was dem Kinde plötzlich diesen furchtbaren Ernst, diese leichenhafte Starrheit gegeben, mag der Himmel wissen! Etwas Gutes ist es sicher nicht gewesen; aber ich sage Ihnen, sie versteht mit einer Energie zu schweigen, die nichts erschüttert, und wenn das noch länger so fortdauert, dann geht sie uns dabei zu Grunde. Ihre ganze Natur ist wie aus den Fugen gerückt.“
Bernhard gab keine Antwort, aber seine Stirn umwölkte sich noch mehr, während er nachdenkend den Kopf in die Hand stützte. Das plötzlich eingetretene Stillschweigen ward durch den Diener unterbrochen, der den Herrn Landrichter aus E. meldete.
Günther erhob sich rasch. „Sehr angenehm! Fräulein Reich,“ wandte er sich an diese, „bitte, gehen Sie zu Lucie und sagen Sie ihr, daß ich sie für den heutigen Abend dispensire. Ich will sie nicht der Marter einer Unterhaltung aussetzen, deren Hauptgegenstand jedenfalls wieder das unglückliche Ereigniß ist, das nun einmal die ganze Umgegend beschäftigt. Schicken Sie sie zu Bett, morgen werde ich mit ihr reden. Sie kommen aber doch jedenfalls zu uns zurück?“
Franziska nickte zustimmend und verschwand im Nebenzimmer, dessen Thür diesmal nur angelehnt blieb, während Günther dem Besuche, wie er meinte, entgegenging. Er war mit dem Landrichter bekannt und dieser bereits öfter als Gast in Dobra gewesen; er empfing ihn also auch heute in dieser Eigenschaft und lud ihn nach der üblichen Begrüßung ein, Platz zu nehmen. Der Beamte aber blieb diesmal stehen und sagte steif ablehnend.
„Ich danke! Ich komme in amtlicher Eigenschaft.“
„In der That?“ fragte Günther ruhig und völlig unbefangen, denn bei der Menge von Leuten, die er auf seinen Gütern commandirte, konnte allerdings leicht etwas vorkommen, das ein amtliches Einschreiten nothwendig machte. „Aber wir brauchen das doch hoffentlich nicht stehend abzumachen. Darf ich bitten?“
Der Landrichter wies auf’s Neue den dargebotenen Stuhl zurück. „Herr Günther, ich komme in einer sehr ernsten Angelegenheit. Meine Pflicht zwingt mich diesmal zu einem peinlichen Amte. Ich habe den Auftrag, Sie zu verhaften.“
Günther trat zurück und sah den Beamten an, als habe er nicht recht gehört. „Mich verhaften? Mich? Sie sind im Irrthum, Herr Landrichter!“
„Ich bedaure,“ sagte dieser gemessen, „aber hier kann von keinem Irrthum die Rede sein. Der Befehl lautet ausdrücklich auf Ihre Person; ich muß Sie bitten, sich der Nothwendigkeit zu fügen und mir zu folgen.“
Bernhard war an den Tisch zurückgetreten; noch behauptete seine ruhige Natur ihr Recht einem Schlage gegenüber, der vielleicht jeden Andern außer Fassung gebracht hätte; nur etwas bleicher war er geworden.
„Und wessen beschuldigt man mich?“ fragte er langsam.
„Das werden Sie in E. erfahren.“
„Mein Herr!“ In Günther’s Stimme gab sich jetzt doch die verhaltene Aufregung kund. „Ich werde doch wohl das Recht haben zu fragen, weshalb man mich plötzlich aus meinem Hause reißen und in’s Gefängniß schleppen will! Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß ich auch nicht die leiseste Ahnung davon habe.“
Der Beamte zögerte. Vielleicht siegte die Rücksicht gegen den Mann, der ihm bekannt, ja fast befreundet war, vielleicht glaubte er auch durch Ueberraschung zu wirken und ein Geständniß zu erpressen, genug, er setzte die Amtsformalitäten, die hier ohnedies nicht so streng gehandhabt wurden, auf einen Augenblick aus den Augen und entgegnete ernst:
„Der gegen Sie schwebende Verdacht hängt mit der Ermordung des Grafen Rhaneck zusammen.“
Bernhard richtete sich heftig auf. „Hält man mich etwa für den Mörder des Grafen?“
Der Landrichter schwieg und sah ihn fest an. „Die Untersuchung wird das Nähere ergeben,“ sagte er endlich ausweichend. „Für jetzt ersuche ich Sie, mir unverzüglich zu folgen; mein Wagen wartet draußen; die Abfahrt wird in aller Stille und vorläufig noch ohne jedes Aufsehen geschehen.“
„Nein, das wird sie nicht!“ tönte plötzlich eine fremde Stimme dazwischen. Die Thür des Nebenzimmers war aufgeflogen, und auf der Schwelle stand, außer sich, hochroth im ganzen Gesichte, Fräulein Reich; hinter ihr erschien das bleiche Antlitz Luciens.
Franziska begnügte sich keineswegs mit diesem Proteste aus der Entfernung. Rasch schritt sie durch das Zimmer und stellte sich dicht an Günther’s Seite, als sei dies der Platz, der ihr von Rechtswegen gehöre und den sie sich von Niemandem auf der Welt streitig machen lasse.
„Nein, das wird sie nicht!“ wiederholte sie zornbebend. „Glauben Sie etwa, wir lassen uns hier in Dobra so ohne weiteres überfallen und wegschleppen, blos weil es Ihren Gerichten einfällt, einen geradezu lächerlichen