Purpur wieder ihr Antlitz überfluthen, doch es kam nicht dazu, kaum daß ein schwacher Hauch von Röthe es überflog, und auch der schwand schon in der nächsten Minute, um der früheren tiefen Blässe wieder Platz zu machen. Ihre Kräfte hätten doch wohl nicht ausgereicht zu dem ganzen Wege, aber wenn diese unerwartete Begegnung, die sie ja allein nur suchte, ihr auch erwünscht kam – leichter war ihr dabei nicht geworden.
„Das Fräulein will nach N. zum Pfarrer Clemens,“ nahm der Bauer endlich das Wort, als er sah, daß Niemand von den Beiden redete.
„Das ist jetzt nicht mehr nöthig!“ unterbrach ihn seine Begleiterin leise, aber mit sichtbarer Anstrengung. „Ich kann auch – ich werde es auch dem Pater Benedict mittheilen können, was mich herführte. Erwarten Sie mich dort unten im Gehöft, in einer Viertelstunde bin ich wieder bei Ihnen.“
Der Bauer nickte und nach nochmaligem ehrfurchtsvollem Gruße gegen den Caplan trollte er ab. Er war sehr froh, sein Führerlohn so leichten Kaufes verdient zu haben, ohne den beschwerlichen Weg machen zu müssen, und fand es gar nicht auffallend, daß auch die junge Dame diesen scheute und es deshalb vorzog, sich dem Caplan anzuvertrauen, der ihre Botschaft oder ihr Anliegen ja jedenfalls dem Pfarrer überbrachte. Er sprach einstweilen in dem Gehöfte ein und wartete dort verabredetermaßen.
Benedict und Lucie waren allein zurückgeblieben. Sie befanden sich hier in halber Höhe des Gebirges, das einen seiner großartigsten Punkte vor ihnen aufrollte. Dort drüben thürmten sich in schwindelnder Höhe die riesigen Gipfel der „steilen Wand“ empor; sie war völlig klar heute, weißleuchtend lag der Schnee auf den Spitzen, in den Schluchten und Scharten des gigantischen Felskolosses, aber noch jagte graues Sturmgewölk darüber hin und warf ein trübes, mattes Licht auf ihn und auf die ganze Umgebung. Ringsum nur Tannenwipfel, so weit das Auge reichte, an den Bergen, an den Felswänden, bis dort hinauf, wo der Schnee begann, überall nur das einförmige ewig dunkle Grün und tief unten im Thale der Bergstrom, der wie ein kochender Strahl aus den Tannen hervorbrach, zwischen ihnen verschwand und sich dann weiß schäumend auf’s Neue hervorwand, sein dumpfes Brausen drang fern und undeutlich herauf, der einzige Laut in der großartigen schweigenden Einsamkeit.
„Sie wollten zu Pfarrer Clemens, mein Fräulein?“ begann Benedict endlich die Unterredung.
Lucie schüttelte das Haupt. „Nicht zu ihm,“ entgegnete sie leise; „ich hoffte, Sie am sichersten dort zu finden. – Ich suchte Sie allein!“
„Mich!“ Es war ein stürmisches Aufwogen in seiner Stimme, aber es sank sofort wieder bei dem Blick auf ihr Gesicht. Was war aus diesem Kinderantlitz geworden, seit er es zum letzten Male gesehen! „Mich!“ wiederholte er langsam, „und was konnte Sie zu mir führen?“
Lucie schwieg. Jetzt, wo sie vor der Entscheidung stand, drohte der Muth zusammenzubrechen, der sie bisher aufrecht erhalten, sie hatte den Bruder retten wollen und fühlte doch jetzt, daß sie zu viel unternommen, daß sie eher seine Gefangenschaft, seine Gefahr ertragen hätte, Alles – nur nicht seine Rettung um diesen Preis!
Benedict sah den Kampf in ihren Zügen. „Kostet es Ihnen so schwere Ueberwindung, auch nur das Wort an mich zu richten?“ fragte er bitter. „Ich begreife es, nach dem, was geschehen ist, aber Sie werden sich doch wohl entschließen müssen, noch einmal zu dem Verhaßten zu sprechen, wenn ich anders Ihren Wunsch erfahren soll!“
Er zog den Mantel fester um die Schultern. Luciens Blick heftete sich wie in angstvollem Forschen auf diesen Mantel von dunklem einfachen Tuche, als suche oder – fürchte sie dort etwas, aber der Saum verschwand völlig in den Falten, er ließ sich nicht verfolgen.
„Ich habe eine Frage an Sie,“ sagte sie endlich fast unhörbar, „und eine Bitte!“
„Nun wohl, ich warte.“
Es lag eine seltsame Härte in dem Ton, es war überhaupt etwas Hartes, Starres in seinem ganzen Wesen; Lucie wußte wohl, daß es schwinden würde, wenn sie das Auge zu ihm emporhob, aber sie wußte auch, daß es um ihre Fassung geschehen war, wenn er sich jetzt nicht herb und hart zeigte, ihr Blick blieb an den Boden geheftet.
„Es betrifft den Tod des Grafen Rhaneck –“
Sie schwieg plötzlich, es schien ihr, als sei er aufgezuckt bei dem Namen, aber eine Antwort erfolgte nicht.
„Man sagt, er sei –“ sie hielt wieder inne, das entsetzliche Wort konnte nicht über ihre Lippen, „es sei kein bloßes Unglück gewesen, dem er zum Opfer gefallen.“
Wieder dies entsetzliche Schweigen. Benedict blieb stumm, Lucie wagte es noch immer nicht, ihn anzublicken, aber sie raffte den letzten Rest ihrer Kraft zusammen.
„Die Gerichte haben sich bereits der Sache bemächtigt. Man beschuldigt meinen Bruder – er ist gestern verhaftet worden.“
Jetzt zum ersten Male zuckte er wirklich auf, sie sah, wie seine Hand sich krampfhaft ballte.
„Günther? Ah!“
Es war ein Ausruf halb der Wuth und halb des Entsetzens, aber es blitzte dabei etwas wie ein Hoffnungsstrahl auf in der Seele des jungen Mädchens.
„Sie wußten es nicht?“
„Wir sind seit drei Tagen abgeschnitten von der Ebene, selbst die gewöhnlichen Boten kommen nicht mehr zu uns herauf. Ich ahnte nicht, daß man überhaupt Verdacht hegte, sonst –“
„Sonst wären Sie gekommen und hätten Bernhard gerettet – ich wußte es!“
Benedict trat zurück und sah sie starr an, aber das vollste Entsetzen lag in diesem Blick. „Ich? Lucie, allmächtiger Gott, wer hat Sie gelehrt die Rettung bei mir zu suchen?“
Die bebenden Lippen des jungen Mädchens versagten ihr fast die Worte. „Ich – ich ahnte es, daß die Hülfe nur hier zu finden sei. Mein Bruder ist gefangen, seine Ehre, sein Leben steht auf dem Spiel. Retten Sie ihn!“
Jetzt endlich sah Lucie Benedict an, aber es war ein Ausdruck der Todesangst in diesem Blick, und doch galt ihr Flehen in diesem Augenblick nicht dem Bruder. Nicht die Verweigerung, die Gewährung der Bitte war es ja, die sie fürchtete. Wäre er jetzt befremdet zurückgetreten, hätte er gesagt: „Ich kann nicht, mein Fräulein, mir fehlt jede Macht dazu“ – ihr eignes Leben und Bernhard’s Freiheit hätte sie hingegeben für das eine Wort aus seinem Munde, aber dies Wort kam nicht, er sah sie an, nur einen Moment lang, dann wandte er sich plötzlich ab und – schwieg.
Lucie wußte genug! Sie schlang den Arm um den noch aufrecht stehenden Stamm des gestürzten Heiligenbildes und lehnte halb bewußtlos das Haupt an das feuchte Holz. Einige Secunden vergingen so, sie standen so nahe bei einander und doch gähnte eine Kluft zwischen ihnen, tiefer als jene, in der Ottfried den Tod gefunden. Ueber ihnen der graue Himmel mit den jagenden gährenden Wolkenmassen, um sie her die rauschenden Tannenwipfel und tief unten der Fluß mit seinem dumpfen Brausen.
Erst Benedict’s Stimme rief das junge Mädchen wieder zur Besinnung zurück, er stand jetzt neben ihr.
„Ich will nicht fragen, wer Ihnen das Geheimniß verrathen hat, das Sie wissen müssen, um so mit mir zu sprechen, aber Sie kamen zur rechten Zeit. Zittern Sie nicht so angstvoll um den Bruder, Lucie, seine Gefahr ist zu Ende mit meinem Schweigen! Hätte ich gewußt, daß der Verdacht sich auf einen Unschuldigen richtet, es wäre längst gebrochen. Ich habe jetzt nichts mehr zu schonen.“
Lucie ließ die Stütze fahren und richtete sich empor. „Sie kennen also – den Thäter?“
Es folgte eine secundenlange Pause. „Ja!“ sagte er endlich schwer.
„Und Sie werden ihn nennen?“
„Ich werde!“
„Ich danke Ihnen!“ Sie wandte sich um und wollte gehen, aber es war jetzt zu Ende mit ihrer Kraft. Die Last war auch zu schwer für das junge Wesen, das bis vor wenig Tagen noch kaum gewußt hatte, was Schmerz sei, sie schwankte und war im Begriff zu sinken, doch in demselben Moment war Benedict auch schon an ihrer Seite und fing sie in seinen Armen auf.
„Lucie!“