»O mein Gott, warum hat sie solche Gedanken?«
»Weil sie diese ja von sich schieben wollte. Es sollte alles so bleiben wie bisher. Sie wollte ihre Eltern behalten. So erwachsen ist sie noch nicht, um sich selbst zu erforschen.
Gisela sah ihn lange und nachdenklich an. »Ich glaube, daß ich, wenn man es genau nimmt, bisher auch noch nicht so erwachsen war, Herr Doktor«, sagte sie leise. »Erst heute habe ich über uns nachgedacht, über mich, über unsere Ehe, unser Leben. Aber jetzt möchte ich mein Kind in die Arme nehmen.«
»Warten Sie noch, Frau Attenberg. Denise ist in guter Obhut. Wenn man sie jetzt aus dem Schlaf reißt, wird nichts besser. Ich habe ihr alles erklärt. Kommissar Röck hat mir seine Vermutungen glücklicherweise mitgeteilt, und Denise hat mir alles erzählt, was in ihrem Köpfchen vor sich ging. Lassen Sie ihr ein bißchen Zeit. Sie hat noch Ängste zu bezwingen und auch Scham, weil sie begreift, daß sie etwas angerichtet hat, was Ihnen große Kummer bereitete.«
»Ich werde ihr keine Vorwürfe machen«, sagte Gisela. »Ich bin glücklich, wenn ich mein Kind wiederbekomme.«
»Morgen ist dafür Zeit«, sagte Dr. Norden. »Jetzt sind Sie noch sehr erregt. Ich habe Denise nichts von dem Unfall gesagt. Sie schläft bei uns gut bewacht, Frau Attenberg.«
»Was müssen Sie von uns denken?«
»Das Sie Ihr Kind lieben und Frau Holden helfen wollten. Sie haben nur vergessen, daß eine Zehnjährige kein Baby mehr ist, aber welche Eltern, die mit ihrem Kind so innig verbunden sind, vergessen das nicht? Unser Danny wird nun bald zwei Jahre, und wir werden ein Baby haben. Wenn Danny das Schwatzen anfängt, kann ich es nicht glauben, daß er den Windeln entwachsen ist. Als Arzt rede ich klug daher, als Vater muß ich auch erst Erfahrungen sammeln.«
»Sie sind so nett und verständnisvoll«, sagte Gisela leise. »Sehen Sie jetzt noch mal nach meinen Mann?«
»Das wollte ich. Der gute Leibrecht hat ihn mir ans Herz gelegt, aber in der Klinik war er ja nicht mehr zu halten.«
»Er hat sich wieder mal stärker erwiesen als ich. Ich müßte mich jetzt eigentlich um Leslie kümmern. Die Arme macht sich sorgenvolle Gedanken.«
Sie hat Herz und Gemüt, dachte Dr. Norden, und ein zuversichtliches Lächeln legte sich um seinen Mund.
»Dr. Leitner wird bestens für Ihre Freundin sorgen«, sagte er. »Dafür garantiere ich. Er wird Sie benachrichtigen, wenn sich etwas tut.«
»Meinen Sie, das das Baby früher kommt?«
»Es kann möglich sein, aber es besteht keine Gefahr für Mutter und Kind. Die Klinik ist bestens ausgestattet, und bewacht wird Frau Holden auch von Kommissar Röck.«
»Warum das?« fragte Gisela beklommen.
»Weil er sich auch Vorwürfe macht, weil er sie ziemlich hart angefaßt hat. Er mußte schließlich in Betracht ziehen, daß Frau Holden in eine mögliche Entführung verwickelt ist.«
»Leslie? Sie kann doch keiner Fliege etwas zuleide tun, und unserem Kind würde sie niemals schaden«, sagte Gisela.
»Auch das konnte Kommissar Röck nicht wissen. Wir alle wußten gar nichts, Frau Attenberg.«
»Und das alles nur, weil ich als Mutter versagt habe?« fragte sie leise.
»Versagt haben Sie nicht. Sie waren sich nur nicht bewußt, daß Denise zehn Jahre alt ist und nicht mehr an den Klapperstorch glaubt.«
»Aber wir haben sie doch selbst aufgeklärt«, sagte Gisela.
»Um ganz offen zu sein, möchte ich doch sagen, daß Sie sich scheuten, von einem Kind zu sprechen, das keinen Vater hat. Es ist kein Vorwurf, Frau Attenberg. Ich kann mir vorstellen, was Sie sich dabei dachten, aber Denise weiß, daß jedes Kind einen Vater hat, auch wenn er dann aus mancherlei Gründen nicht in Erscheinung tritt. Ihr größtes Problem war halt, daß eine andere Frau als ihre Mami ein Kind haben könnte von einem Mann, der auch ihr Papi ist.«
»Daran denkt sie schon?« fragte Gisela bestürzt.
»Denken Sie doch einmal zurück, was Sie sich im Alter von zehn Jahren alles gedacht haben.«
»Wir waren noch nicht aufgeklärt«, sagte Gisela verlegen, aber dann erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht. »An eine Begebenheit erinnere ich mich, als eine Tante zu Besuch kam, die jüngere Schwester meiner Mutter. Ich wunderte mich, daß sie so sehr zugenommen hatte und sagte, daß Tante Ursula früher eine viel schönere Figur gehabt hätte. Sie äße halt zuviel, sagte mein Vater. Ja, so war das damals.«
»Und es wurde doch auch unter der Voraussetzung gesagt, daß man die Kinder nicht für reif genug hielt, ihnen die Wahrheit zu sagen. Und dabei ist es doch so schön, wenn man sich auf ein Baby freuen und die Kinder an dieser Freude teilhaben lassen kann.«
»Ich habe heute viel gelernt, Herr Doktor«, sagte Gisela verhalten, »auch daß es falsch ist, von vornherein zu sagen, daß man nur ein Kind haben will. Als Leslie damals zu uns kam, dachte ich auch, ob es nicht besser wäre, wenn dieses Kind gar nicht zur Welt käme, und jetzt habe ich Angst, daß es Schaden genommen haben könnte. So sehr kann ein einziger Tag ein Leben verändern.«
»Wenn es danach noch schöner werden kann, soll man dankbar sein«, sagte Daniel.
»Was ich dazu tun kann, werde ich tun. Ich verspreche es Ihnen«, sagte Gisela. »Und geben Sie meiner kleinen Denni einen Kuß von mir. Ich danke Ihnen für alles, Herr Doktor.«
Sie haben Glück, dachte Daniel Norden. Manche Eltern verbringen viele schlaflose Nächte, bis sie ihr Kind wiederbekommen, und manche warten umsonst.
Denise schlief einem neuen Tag entgegen. Vielleicht würde sie eines Tages vergessen, was sie weggetrieben hatte, vielleicht aber würde es auch nachhaltig auf ihren weiteren Lebensweg wirken. Es lag jetzt an ihren Eltern, die ganz gewiß um einiges klüger geworden waren. Im Leben der Attenbergs war es ein entscheidender Tag gewesen, das stand fest. Aber auch Leslie Holdens Leben hatte eine Wendung genommen.
Dr. Georg Leitner, von seinen Freunden Schorsch genannt, konnte beruhigt feststellen, daß eine Frühgeburt zu vermeiden gewesen war. Im Fall dieser jungen Frau war dies beruhigend, denn die eingehende Untersuchung hatte ergeben, daß das Kind sich alles von seiner Mutter genommen hatte, was nur zu nehmen war. Besorgniserregend war nur, daß Leslie nicht kräftig genug war, alles zu geben.
Dr. Leitner hatte große Erfahrung. Er kannte die werdenden Mütter, die sich gehenließen, diejenigen, die im wahrsten Sinne des Wortes für zwei aßen, und er kannte auch solche, die so waren wie Leslie, diszipliniert und keine Spur egoistisch.
Sie gehörte zu jenen, die bis zur letzten Stunde nur auf die Zukunft ihres Kindes bedacht, ihre Aufgaben erfüllen wollte. Sie war zäh, aber dazu geneigt, ihre Kraft zu überschätzen. Und der Schock, den sie an diesem Tag erlitten hatte, konnte nicht ohne Rückwirkung bleiben.
Kommissar Röck machte sich nach dem Gespräch mit dem Frauenarzt schon die bittersten Vorwürfe, daß auch er dazu beigetragen hatte, daß Leslie Holden sich jetzt in einem bedenklichen Zustand befand. Er hatte sich ausgebeten, in der Klinik bleiben zu dürfen. Er saß an Leslies Bett, als gehöre er zu ihr.
»Was tun Sie hier?« fragte Leslie. »Suchen Sie Denni.« Sie wußte nicht, daß Denni längst gefunden war.
»Das Kind lebt«, sagte Helmut Röck leise.
»Das sagen Sie nur so«, flüsterte Leslie.
»Es ist die Wahrheit. Denise ist bei Dr. Norden. Ich habe die Nachricht bekommen.«
»Wieso bei Dr. Norden?« fragte Leslie zweifelnd.
»Genaues weiß ich auch noch nicht, aber Sie brauchen sich nicht mehr aufzuregen. Ich schwöre es Ihnen, daß es die Wahrheit ist. Dr. Leitner kann es Ihnen bestätigen.«
»Er soll kommen. Er soll es mir bestätigen«, sagte Leslie.
Helmut Röck drückte auf die Klingel, und Dr. Leitner