plötzlich verschwunden. Ich meine Ihre Tochter.«
»Sie ist weggelaufen? Das ist unmöglich, das tut Denise nicht. Dorle muß sich getäuscht haben.«
»Es kann möglich sein. Dorle sagt, daß Denise in letzter Zeit sehr still und verschlossen war. Sie haben eine Klassenkameradin, deren Eltern sich scheiden ließen, weil der Vater ein Verhältnis mit einer anderen Frau hatte, das nicht ohne Folgen blieb.«
Raimund Attenberg richtete sich auf. Er starrte den Kommissar an.
»Das ist doch Wahnsinn«, stöhnte er. »Wollen Sie mir ein Verhältnis mit Leslie andichten, weil sie ein Baby erwartet? Meine Frau weiß doch alles. Sie war mit allem einverstanden. Sie wollte Leslie sogar zu uns ins Haus nehmen.«
»Ihre Frau wußte es also«, sagte Kommissar Röck. »wußte es auch Ihre Tochter?«
»Denise? Aber sie ist doch noch viel zu klein, um das alles zu verstehen. Natürlich haben wir nicht mir ihr darüber gesprochen.«
»Was möglicherweise falsch war«, sagte der Kommissar. »Meine Tochter ist zwar erst sieben Jahre alt, aber sie stellt manchmal verdammt verzwickte Fragen. Kinder sehen und hören viel mehr, als man meint. Es mag sein, daß meine Gedanken in die Irre gehen, Herr Attenberg, aber könnte es nicht sein, daß Ihre Tochter falschen Vermutungen verfiel und vor irgend etwas, das sie nicht verkraften konnte, davonlief? Dr. Norden sagte mir, daß sie in letzter Zeit sehr verändert war, was auch durch Dorle Meißner bestätigt wurde.«
»Ich kann das nicht glauben«, sagte Raimund Attenberg. »Dann hätte sie doch fragen können.«
»Nun, womöglich hatte sie Angst vor einer Wahrheit, die ihr nicht gefallen hätte. Kinder in diesem Alter denken schon viel mehr, als die Eltern annehmen, und sie sprechen nicht alles aus, was sie denken. Seelische Erschütterungen können alle möglichen Folgen nach sich ziehen.«
»Gut, das mag sein, aber eine Entführung wäre doch auch nicht auszuschließen, und während wir hier reden, passiert vielleicht Schreckliches.«
Leslie hatte bisher nichts gesagt. Sie war kreidebleich und zitterte. Nun liefen Tränen ihre Wangen hinunter. »Wenn ich schuld sein sollte, lieber Gott, ich könnte es mir nicht verzeihen, daß eure Freundschaft und euer Entgegenkommen diese Folgen haben könnte.«
»Dich trifft keine Schuld, Leslie«, sagte Raimund. »Wenn schon, dann uns, weil wir Denise für zu kindlich hielten, um sie einzuweihen. Gestern sagte Gisi, daß sie mit ihr sprechen wolle und heute nun…«
Er konnte nicht mehr weitersprechen.
»Wir suchen das Kind«, sagte Kommissar Röck. »Alle Streifenbeamten haben ihr Bild und die Beschreibung ihrer Kleidung. Eine Lösegeldforderung ist noch nicht gekommen. Unsere Erfahrungen lehren, daß dies bald geschieht und man dann erst eine Pause eintreten läßt, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen.«
Daß ein anderes Verbrechen auch nicht auszuschließen war, sagte er nicht, und Raimund Attenberg dachte glücklicherweise nicht daran.
Prof. Leibrecht war wieder eingetreten. »Die Röntgenaufnahmen haben ergeben, daß Sie glimpflich davongekommen sind, Herr Attenberg«, sagte er.
»Dann lassen Sie mich doch heim. Ich kann meine Frau doch nicht im Stich lassen. Dr. Norden ist doch jederzeit erreichbar.«
»Ich habe bereits mit ihm telefoniert. Ich glaube, daß es zu verantworten ist, wenn Ihr Schädel auch noch brummen wird. Und ich meine, daß da noch jemand ist, der unter ärztliche Aufsicht gehört«, fuhr er mit einem Blick zu Leslie fort. »Der wievielte Monat ist es?«
»Der achte«, erwiderte sie stockend.
Das sah man ihr allerdings nicht an. Aber sie war ziemlich groß, fast so groß sie Kommissar Röck, und sie war auch sehr geschickt gekleidet.
»Ja, wenn es gestattet ist, werde ich Sie jetzt heimbringen«, sagte Kommissar Röck.
»Die Polizei, dein Freund und Helfer«, sagte Raimund ironisch, aber dann wurde er verlegen. »Sie sind wirklich sehr nett, Herr Kommissar.«
»Es tut mir leid, daß ich Frau Holden verhören mußte, aber ich denke, daß sie es verstehen wird«, sagte Helmut Röck. »Man hat manchmal sehr unangenehme Aufgaben.«
»Wir müssen Denise finden«, stammelte Leslie. »Wir müssen sie finden. Ich könnte meines Lebens nicht mehr froh werden.«
*
Denise ging durch unbekannte Straßen. Sie fror und hatte Hunger, und es wurde immer dunkler. Nun kam auch die Angst, die andere Gedanken verdrängte. Ein einsames Kind in einer großen Stadt, und es wußte nicht mehr ein noch aus.
Was sollte sie denn jetzt tun? Wieder ein Taxi suchen und heimfahren? Sie dachte an ihre geliebte Mami, die nun bestimmt Angst um sie haben würde. Ihrer Mami wollte sie doch nicht weh tun. Es war so schwer, alles zu begreifen.
Denise hatte jetzt das Gefühl, daß ihr schwere Schritte folgten. Ihr Herz begann angstvoll zu schlagen. Sie war langsam gegangen, jetzt begann sie zu laufen, bis sie wieder in einer belebten Straße war. Da konnte sie sich ein bißchen verschnaufen. Die Geschäfte waren noch offen, und viele Menschen waren auf den Straßen, und irgendwie kam ihr die Gegend auch bekannt vor.
Staunend blieb sie vor einer Konditorei stehen. Hier kaufte sie doch manchmal mit ihrer Mami ein! Ja, gewiß, sie erkannte durch die Scheibe auch die Verkäuferin.
Sollte sie so weit gelaufen sein? Mit dem Auto fuhr man doch von hier aus schon eine gute Viertelstunde in die Stadt.
Andere Gedanken kamen ihr. Es konnte gut sein, daß sie hier jemanden trat, der sie kannte, vielleicht sogar einen Lehrer oder eine Lehrerin, oder Klassenkameradinnen. Und was sollte sie dann sagen? Nein, nie und nimmer würde sie sich wieder zur Schule wagen, sich neugierigen Fragen aussetzen.
Was konnte sie sich nur ausdenken, um ihr Weglaufen zu erklären? Lügen durfte man doch nicht.
Trotzig schob sich ihre Unterlippe vor. Ich werde es ihnen sagen, ich werde Mami und Papi sagen, warum ich weggelaufen bin, ging es durch ihren kleinen Kopf, der zu schmerzen begann. Ich werde ihnen sagen, was sie mir antun, wenn sie sich trennen. Aber vielleicht machte das ihrem Papi gar nichts aus, wenn er ein anderes Kind hatte, eins von Leslie.
Schnell lief Denise jetzt weiter, aber ihre Füße schmerzten und sie hatte heftiges Seitenstechen. Das Atmen fiel ihr auch schon schwer. Feuchtkalt war die Abendluft, und zu allem Übel begann es auch noch zu regnen.
Wie von selbst lenkte sie ihre Schritte in die stille Villenstraße, in der ein Haus stand, das ihr wohlbekannt war. Jeder Schritt und jeder Atemzug bereitete ihr jetzt schon Schmerzen, und dann drückte sie mit letzter Kraft und fast unbewußt auf die Glocke.
*
Gisela Attenberg hatte die Schwäche überwunden. Sie machte sich jetzt stark. Molly hatte beschwörend auf sie eingeredet und Erfolg gehabt.
Aber das Telefon schwieg. Wie oft kamen sonst Anrufe, aber es war, als wüßte es alle Welt, was hier geschehen war und keiner wagte einen Anruf von den Freunden, die sie besaßen.
»Ob sie es schon im Radio gesagt haben?« fragte Gisela leise.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Molly. »Wollen wir es anstellen?«
»Nein«, sagte Gisela leise. »Warum kommt keine Nachricht von meinem Mann?«
Wenige Minuten später kam er selbst und mit ihm der Kommissar und Leslie.
Gisela war keines Wortes fähig. Stumm umarmte sich das Ehepaar, und wer wollte es ihnen verdenken, daß ihnen beiden Tränen über die Wangen rannen.
Molly mußte mit ihnen weinen. Bei ihr flossen die Tränen schnell, aber da Leslie nun einen Schwächeanfall erlitt, war sie gleich wieder ganz da.
»Wir brauchen die Hoffnung nicht aufzugeben, Liebling«, sagte Raimund Attenberg zu seiner Frau. »Kommissar Röck hat da eine Theorie entwickelt, die eine Erklärung für das Verschwinden des Kindes sein könnte.«