daß schnellste Hilfe geboten war.
Dr. Norden fertigte zwei Patienten ab, dann rief er Frau Schwartz an, Hannis Schwiegermutter, die auch zu seinen Patientinnen zählte. Frau Schneller wartete gern. Sie war sogar bereit, andere vorzulassen.
»Das habe ich mir schon gedacht«, war Frau Schwartzes Antwort, als er ihr sagte, daß er Hanni in die Klinik gebracht hate. »Hat sich ja auch schamlos ausnützen lassen, das arme Ding, die Geschwister haben sich nicht um die Mutter gekümmert. Meinem Sohn sag’ ich es schon selbst, Herr Doktor, da brauchen Sie sich nicht zu bemühen, und mit der Kleinen komme ich in den nächsten Tagen auch mal vorbei. Jetzt geht es ja wieder, aber sie war ja kaum zum Wiedererkennen, als Hanni gestern mit ihr zurückkam. Hanni, hab ich gesagt, jetzt gehst du sofort zu Dr. Norden. Und recht hab ich gehabt.«
Sie war redselig, aber eine tüchtige, nette Frau, und man konnte sie nicht kurz und bündig abfertigen. Sie meinte es gut mit ihrer Schwiegertochter. Wahrscheinlich würde sie die kleine Enkelin verwöhnen, als wenn das Kind unter gespannten Verhältnissen leiden mußte.
Dr. Norden kannte diese Verhältnisse. Hanni Schwartz stammte aus einer reichen Bauernfamilie und hatte eine schöne Mitgift bekommen. Daß sie mit ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter in einem hübschen Häuschen leben konnte, war dieser Mitgift zu verdanken, aber man verlangte von ihr dafür auch Dankbarkeit, wie sich nun mal wieder in krasser Form erwiesen hatte. Ja, der Dr. Norden hatte mehrere Sorgenkinder in seiner Praxis, aber die wußten halt, daß sie sich auf ihn verlassen konnten. Er war keiner von denen, die nur dicke Honorare kassieren wollten, und deshalb darauf bedacht waren,
in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Patienten abzufertigen. Bei ihm ging es selten hektisch zu. Da mußte schon etwas ganz Besonderes passieren, wie an diesem Tag nun zum zweiten Mal. Und da geriet sogar er in Aufregung.
Frau Attenberg rief an. Schluchzend sagte sie ihm, daß sie von der Schule benachrichtigt worden sei, daß Denise dort nicht angekommen wäre.
»Aber ich habe sie zur Schule gefahren«, sagte sie erregt. »Ich habe früher mit der Lehrerin verabredet, daß sie mich benachrichtigen soll, wenn etwas mit Denise ist, und nun hat sie mir gesagt, daß das Kind nicht zum Unterricht erschienen ist. Ich bin völlig fertig mit den Nerven, Herr Doktor.«
»Haben Sie die Polizei verständigt?« fragte er.»Nein, ich habe mit meinem Mann telefoniert, und er ist der Meinung, daß sie entführt worden ist. Er will die Polizei nicht einschalten. Aber Denise geht mit keinem Fremden. Ich weiß es. Ich habe Angst, weil sie doch so verändert war!«
Im Wartezimmer saß nur noch Frau Schneller, und Dr. Norden fragte sie, ob sie am nächsten Tag wiederkommen könnte.
»Ich habe noch einen ganz dringenden Fall«, sagte er entschuldigend. »Es tut mir leid, weil Sie so geduldig gewartet haben, Frau Schneller.«
»Macht nichts, Herr Doktor, ich komme gerne morgen wieder. Ist ja auch gleich, ob ich die Spritze heute oder morgen bekomme.«
»Loni, rufen Sie bitte meine Frau an«, sagte er dann hastig. »Ich komme später. Ich muß jetzt zu Frau Attenberg.«
Von dem Verschwinden des Kindes sagte er nichts. Sollte Denise wirklich entführt worden sein, war möglicherweise größte Vorsicht geboten. Raimund Attenberg war ein reicher Juwelier, und Entführungen häuften sich in letzter Zeit. All dies ging Daniel Norden durch den Kopf, während er zu Frau Attenberg fuhr.
*
Die Attenbergs bewohnten einen Bungalow in einer exclusiven Villengegend. Man konnte nicht sagen, daß das Haus übertrieben kostspielig wirkte.
Daniel Norden war schon oft hier gewesen. Es war ein Haus, in dem man sich wohl fühlen konnte, in dem ein Kind froh heranwachsen konnte.
Gisela Attenberg sah erschreckend elend aus. Sie war kaum fähig, ein Wort über die Lippen zu bringen, soviel hatte sie schon geweint. Ihr Gesicht war verquollen, ihre Hände eiskalt und sie zitterte am ganzen Körper.
Daniel gab ihr Kreislauftropfen, aber es würde wohl einige Zeit dauern, bis sie sich halbwegs beruhigt hatte.
»Mein Mann wird gleich hier sein«, stammelte sie.
»Haben Sie schon etwas gehört?« fragte Daniel. Sie schüttelte nur den Kopf und begann wieder zu weinen, fast lautlos, deshalb doppelt erschütternd.
»Kinder in diesem Alter kommen manchmal auf dumme Ideen«, versuchte er zu trösten.
»Denise nicht.«
»Vielleicht hatte sie Angst vor einer Klassenarbeit, das gibt es selbst bei den klügsten Kindern«, meinte Daniel.
»Sie haben keine geschrieben. Heute nicht«, sagte Gisela Attenberg stockend. »Und sie hatte auch immer gute Noten, obgleich sie doch so merkwürdig war in letzter Zeit.«
»Und Sie können sich auch nicht erklären, warum sie so merkwürdig war?«
»Nein, ich verstehe es nicht. Es ist uns ein Rätsel.«
»Mir allerdings auch«, sagte Daniel Norden. »Ich habe viel darüber nachgedacht. Gestatten Sie mir eine Frage, Frau Attenberg. Hat es in Ihrer Ehe Differenzen gegeben?«
»Aber nein! Es gibt überhaupt nichts, was anders wäre als früher, nur Denise ist anders geworden. Sie ist doch zu jung, als daß da ein Junge dahinterstecken könnte.« Sie stöhnte auf. »Wo bleibt denn nur mein Mann?«
*
Raimund Attenberg besaß einen Wohnblock im teuersten Geschäftsviertel und in diesem befand sich auch das Juweliergeschäft, in dessen Auslagen man die kostspieligen Juwelen bewundern konnte.
Abgesichert hatte er sich nach allen Seiten. Die Alarmanlage war direkt mit der Polizei verbunden. Er selbst war kein ängstlicher Mann, doch an diesem Vormittag war für ihn die Welt aus den Fugen geraten, denn sein einziges Kind, seine Tochter Denise, war seine wertvollster Besitz.
Leslie Holden, seine Geschäftsführerin, hatte ihn nie so erregt gesehen.
»Reg dich doch nicht so auf, Rai«, sagte sie. »Vielleicht bummelt Denise nur herum.«
»Nein, das tut sie nicht.«
Er sah Leslie vorwurfsvoll an. In einem hübschen Umstandskleid sah sie sehr attraktiv aus, und obgleich sie allen Grund hatte, sich auch manche Sorgen zu machen, zauberte sie ein aufmunterndes Lächeln um ihren schönen Mund.
»Wenn jemand anruft, sag, daß ich in einer halben Stunde zu erreichen bin«, sagte er. »Falls es um Erpressung geht, misch dich um Himmels willen nicht ein. Am besten würde es sein, wir machen den Laden dicht. Ich möchte nicht, daß dir auch noch was passiert.«
»Ich passe schon auf«, sagte sie. Dann begleitete sie ihn zur Tür. Sie legte die Hand auf seine Schulter und blickte zu ihm auf. »Alles Gute, Rai«, sagte sie.
Er lief zu seinem Wagen. Keiner von beiden merkte, daß sie von der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtet wurden.
Raimund Attenberg war so nervös, daß er den schweren Wagen nicht gleich in Gang brachte. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er dann endlich startete, doch schon an der nächsten großen Kreuzung passierte das Unglück. Sicher war er nicht allein schuld, weil der Kombiwagen noch bei Rot über dieKreuzung geschossen war, aber er war auch nicht konzentriert genug gewesen.
Es krachte, und der Verkehr kam zum Stehen. Und schon wenige Minuten später heulten die Sirenen der Streifenwagen.
*
Das kleine Mädchen im grünen Lodenumhang, der mit grünrotkariertem Schottenstoff gefüttert war, stand noch immer auf der dem Juweliergeschäft gegenüberliegenden Straßenseite. Die kleinen Hände bohrten sich in die Taschen. Die Lippen waren fest zusammengepreßt, aber die Augen waren starr und fast blicklos auf die Eingangstür des Juweliergeschäftes gerichtet, durch die Leslie Holden jetzt hinaustrat, um sie sorgfältig abzuschließen.
Denise hatte schon vorher alles genau beobachtet. Stunden stand sie schon hier, und man mußte es dem hektischen Getriebe zuschreiben, daß