sich. »Dr. Norden im Hause Attenberg.«
Sein Gesicht verdüsterte sich immer mehr, während er lauschte.
»Ja, ich werde es Frau Attenberg ausrichten«, sagte er dann dumpf. »Aber es wäre gut, wenn Sie jemanden herschicken würden. Das Kind Denise ist noch immer nicht heimgekehrt.«
»Was ist?« schrie Gisela heraus.
»Frau Attenberg, bitte, regen Sie sich nicht noch mehr auf. Ihr Mann hatte einen kleinen Unfall. Es ist nicht schlimm. Er wird bereits in einer Klinik versorgt.«
Sie sah ihn völlig verstört an. »Mein Mann, oh, mein Gott…«, und dann wurde sie ohnmächtig.
Da stand er nun eine Sekunde auch wie erstarrt. Das war eine Kettenreaktion, wie sie schlimmer nicht sein konnte. Er kniete neben Gisela nieder, fühlte ihren Puls, hob sie dann auf und trug sie zum Sofa.
Sie waren allein im Haus. Das Hausmädchen hatte Urlaub, wie er vorher von Gisela Attenberg erfahren hatte.
Daniel Norden fühlte sich im Augenblick ziemlich hilflos. Die Ohnmacht würde vorübergehen, aber die Aufregung blieb, und er konnte diese Frau nicht allein lassen.
Ganz harmlos wie er ihr die Verletzungen ihres Mannes hatte hinstellen wollen, waren sie nicht. Raimund Attenberg hatte eine Gehirnerschütterung, Platzwunden und auf etwaige innere Verletzungen mußte er noch untersucht werden.
Ein bißchen arg viel war auf Gisela Attenberg eingestürmt. Da hätte selbst eine robustere Frau nicht standgehalten.
Nun hatte er ihr doch eine Injektion gemacht. Es war besser, wenn ihr Denken für eine Zeit ausgeschaltet wurde. Wenn jetzt jemand von der Polizei kam, wäre sie doch nicht zu Auskünften fähig gewesen, und was wußte sie denn schon? Nur, daß Denise nicht zum Unterricht erschienen war und daß ihr Mann nun auch noch einen Unfall hatte.
Welche Kleidung Denise heute trug, hatte ihm Gisela trotz der Erregung sehr genau geschildert. Gut, daß er sie danach gefragt hatte.
Daniel griff zum Telefon und rief Fee an. Sie mußte Bescheid wissen, warum er so lange ausblieb, sonst machte sie sich auch noch Sorgen.
Fee war erschüttert, aber sie wußte auch einen Rat. »Ich werde Molly anrufen«, sagte sie. »Frau Attenberg kennt sie, und wenn Molly keine Zeit hat, schicke ich Lenni.«
Molly war jedoch sofort bereit, wieder einmal einzuspringen. Auf sie konnte man sich immer verlassen.
Giselas Puls ging jetzt ruhiger, aber selbst die Spritze schien nicht voll zu wirken, denn als es nun klingelte, zuckte sie zusammen, war aber zu schwach, um sich aufzurichten.
Zwei Herren in Zivil standen vor der Tür, zeigten ihre Ausweise und stellten sich als Kommissar Röck und Inspektor Kahler vor.
»Frau Attenberg ist ohnmächtig geworden«, erklärte Daniel. »Sie rief mich, weil sie hochgradig erregt über das Verschwinden ihrer Tochter war. Wir warteten auf ihren Mann, da kam der Anruf, daß er einen Unfall hatte.«
Er bemühte sich kurz und präzise zu sagen, was vorgefallen war.
»Frau Attenberg vermutet eine Entführung, allerdings ist sie auch überzeugt, daß ihre Tochter niemals freiwillig mit einem Fremden gehen würde. Ich habe überlegt, daß sie von der Schule aus nicht gewaltsam entführt worden sein kann, ohne daß es jemand bemerkt hätte.«
»Sie denken sehr logisch«, sagte Kommissar Röck. »Es wird schwierig sein, festzustellen, wer sie zuletzt gesehen hat. Eine Lösegeldforderung ist bisher nicht eingegangen?«
»Hier nicht. Im Geschäft meldet sich niemand. Frau Attenberg war darüber auch sehr beunruhigt. Die Geschäftsführerin müßte eigentlich dort sein.«
»Sind nicht andere Angestellte vorhanden?« fragte der Kommissar.
»Ich weiß nicht. Anscheinend nicht. Es ist kein Laden im üblichen Sinne.«
»Ich weiß«, mischte sich der Inspektor ein. »Herr Attenberg hat einen erstklassigen Ruf, aber man weiß auch, daß bei ihm was zu holen ist.«
»Ja, wenn wir wenigsten wüßten, was das Kind trägt«, sagte der Kommissar und nahm eine Fotografie vom Kamin. »Das ist sie wohl?«
Dr. Norden nickte. »Ja, das ist Denise. Ich weiß, welche Kleidung sie trug. Frau Attenberg hat es mir gesagt.«
»Das Kind sieht nicht aus, als wäre es sehr unternehmungslustig, eher verträumt«, stellte der Kommissar fest. »Beschreiben Sie bitte die Kleidung, so gut Sie können, Herr Doktor.«
Daniel tat es. Es war ihm, als sähe Denise ihn mit ihren kummervollen Augen an, und wieder fragte er sich, was sie so bedrückt haben könnte. Etwas, was sie veranlaßte, von daheim wegzulaufen? Es war schwer vorstellbar, aber immerhin möglich. Ob er diese Vermutung auch äußern sollte? Besser nicht, dachte er dann.
»Sie nehmen sich viel Zeit«, stellte Kommissar Röck freundlich fest. »Sind es alte Patienten?«
»Ich bin seit fünf Jahren Hausarzt hier«, erwiderte Daniel. »Ich konnte sie doch nicht allein lassen. Meine frühere Sprechstundenhilfe wird kommen und bei Frau Attenberg bleiben. Ein fremdes Gesicht kann man ihr nicht zumuten. Sie hat einen Schock bekommen.«
»Wenn nur alle Ärzte so denken würden«, brummte der Kommissar. »Meine Frau ist am Blinddarmdurchbruch gestorben, weil der Arzt, der sie behandelte, seinen Wochenendurlaub vorzog und die Gefahr nicht frühzeitig erkannt hatte. Verzeihung, das gehört nicht hierher.«
Aber es war menschlich verständlich. Kommissar Röck war ein sympathischer Mann, noch ziemlich jung und gut aussehend. Wahrscheinlich war er noch nicht lange verheiratet gewesen, als ihm dieses schreckliche Unglück widerfuhr. Er war jedenfalls nicht nur nüchterner Beamter, sondern auch teilnahmsvoll. »Starten wir also die Suchaktion«, sagte er. »Es ist bedauerlich, daß wir nicht die Namen der Kinder kennen, die mit der kleinen Denise enger befreundet waren.«
»Sie hatte meines Wissens nur eine Freundin«, erklärte Daniel. »Dorle Meißner. Sie wohnen in der Gartenstraße 3.«
»Sie sind eine große Hilfe«, sagte der Kommissar.
»Ich habe eigenmächtig gehandelt«, sagte Daniel nachdenklich. »Bitte, gehen Sie diskret vor. Die Attenbergs könnten es mir verübeln, daß ich Auskünfte gegeben habe, falls es sich um eine Entführung handelt. Das Kind darf nicht gefährdet werden.«
»Lieber Dr. Norden, unsere Erfahrungen lehren uns, daß es verschiedene Arten von Entführern gibt. Die ganz Kaltblütigen fackeln nicht lange. Da nützt alle Diskretion nichts. Immerhin muß man auch ein Sittlichkeitsverbrechen in Betracht ziehen.«
»Gott bewahre Denise«, sagte Daniel leise. »Sie ist ein entzückendes Kind.«
»Ich habe auch eine Tochter«, sagte Kommissar Röck. »Und ich habe jeden Tag Angst um sie. Ich verstehe Eltern sehr gut, und ich verstehe auch Sie. Sie geben mir den Glauben an die Ärzte zurück. Wir wollen jetzt keine Zeit mehr verstreichen lassen. Komm, Anderl.«
Auch zu seinem jungen Inspektor hatte er ein kameradschaftliches Verhältnis. Es war ein tröstlicher Gedanke, daß ein Mann nach Denise suchte, der ein Herz hatte und auch Vater war. Aber es war nur ein schwacher Trost für Daniel Norden, als er Gisela Attenberg betrachtete, eine Mutter, die ihr Kind abgöttisch liebte.
Molly kam. Sie hatte sich sogar ein Taxi genommen, und als Daniel ihr sagte, daß ihr alle Kosten selbstverständlich ersetzt würden, winkte sie ab.
»Mein Gott, Sie sollten mich doch kennen. Ich bin da, wenn es irgendwie möglich zu machen ist. Was Sie aber auch alles mitmachen müssen, Chef.«
Obgleich sie schon vor Monaten ihre Stellung aufgegeben hatte, denn die Jüngste war sie auch nicht mehr, waren sie immer verbunden geblieben. Es verging keine Woche, daß Molly nicht mal bei ihnen vorbeischaute.
»Die arme Frau«, sagte Molly, Gisela Attenberg betrachtend. »Gut, daß wir uns immer so prima verstanden haben. Machen Sie sich nur keine Gedanken, Chef, ich werde ihr gut zureden.«