Abwesenheit als eine bloß vorübergehende an, ohne sie die wahre Ursache derselben merken zu lassen. Sie fing an aus dem Zimmer zu gehen, und als sie das erste Mal den Garten besuchte, stützte der alte Christian mit seinem schwachen, zitternden Arme den wankenden Tritt der Genesenden.
9.
Es war ein schöner Tag für Albert, als er seine Geliebte am Arme seines alten Vaters in das Leben zurückkehren sah, und als sie in Gegenwart seiner Familie die Hand ihm reichend, mit einem unaussprechlichen Lächeln sagte:
– Der ist’s, der mich gerettet, und mich gewartet hat, als ob ich seine Schwester wäre.
Aber dieser Tag, der Gipfelpunkt seines Glückes, veränderte mit einem Male und weit mehr als er es sich zum Voraus hatte gestehen mögen, seine Beziehungen zu Consuelo. Den Beschäftigungen der Familie sich wieder anschließend und den Gewohnheiten des Hauses zurückgegeben konnte sie nur selten noch mit ihm allein sein.
Der alte Graf, der ihr weit lebhafter zugetan schien als vor ihrer Krankheit, widmete ihr eine Menge von Aufmerksamkeiten mit einer Art väterlicher Zuvorkommenheit, welche sie tief rührte. Das Stiftsfräulein sagte kein Wort mehr, unterließ aber nicht, alle ihre Schritte zu bewachen und bei allen ihren Unterhaltungen mit Albert die dritte Person abzugeben.
Und endlich, da Albert keine Spur von Geistesabwesenheit mehr verriet, gönnte man sich die Freude, die lange vernachlässigten Verwandten und Nachbarn zu empfangen und sogar einzuladen. Man setzte gewissermaßen einen unschuldigen und zärtlichen Stolz darein, aller Welt zu zeigen, wie gesellig und liebenswürdig der junge Graf von Rudolstadt geworden, und da Consuelo durch Blick und Beispiel ihn aufmunterte, den Wünschen seiner Angehörigen nachzukommen, so musste er sich wohl in die Rolle des Weltmannes und des gastfreundlichen Wirtes fügen.
Diese schnelle Umwandelung fiel ihm außerordentlich schwer. Er unterwarf sich ihr aus Gehorsam für seine Geliebte. Aber er hätte auch gewünscht, durch längere Zwiegespräche und freiere Herzensergüsse sich dafür belohnt zu sehen. Geduldig hielt er den Zwang und die Fadheit langer Tage aus, um am Abende von ihr ein Wort des Beifalls und des Dankes zu ernten.
Wenn aber Wenceslawa sich wie ein lästiger Kobold zwischen sie drängte und ihm diese unschuldige Freude entriss, so fühlte er, dass seine Seele bitter wurde und dass ihn seine Kraft verließ. Er hatte böse Nächte und oft trat er an die Cisterne, die seit dem Tage, wo er Consuelo herausgetragen hatte, immer voll und klar geblieben war. Finster und gedankenvoll verwünschte er fast sein Gelübde, nicht wieder in die Einsiedelei zurückzukehren. Es war ihm schrecklich, sich unglücklich zu fühlen, ohne ferner das Geheimnis seines Leidens im Schoße der Erde begraben zu dürfen.
Die Entstellung seiner Züge nach solchen schlaflosen Nächten, die vorübergehende, doch immer häufigere Wiederkehr seines düsteren und zerstreuten Wesens musste seinen Verwandten und seiner Freundin auffallen. Aber diese hatte das Mittel gefunden, die schwarzen Wolken zu verscheuchen und ihre Herrschaft wieder zu ergreifen, so oft sie dieselbe zu verlieren in Gefahr war. Sie sang, und augenblicklich hingerissen oder überwältigt fand der junge Graf in Tränen Erleichterung oder schwang sich zu frischem Mute auf. Die Wirkung dieses Mittels war unfehlbar und wenn er ihr verstohlen ein Paar Worte sagen konnte, so rief er aus:
– Consuelo, du kennst den Weg zu meiner Seele. Du besitzest die Macht, welche dem großen Haufen versagt ist und besitzest sie mehr als irgend ein Mensch auf Erden. Du redest die Sprache des Himmels, du gibst den seligsten Gefühlen Ausdruck und du verstehst es, die mächtigsten Regungen deiner begeisterten Seele uns anderen mitzuteilen. Singe, singe nur immer, wenn du mich erliegen siehst.
Die Worte, welche du in deinen Gesängen aussprichst, haben für mich wenig Sinn, sie sind nur eine Hieroglyphe, ein kurzes Textwort, über welches sich die Gedanken der Musik verbreiten. Ich höre sie kaum; was ich vernehme, was mir in die Seele dringt, ist deine Stimme, dein Gesang, dein Geist.
Die Musik sagt alles aus, was die Seele Tiefstes und Höchstes träumt und ahnt. In ihr enthüllt sich eine Ordnung von Gedanken und Gefühlen höherer Art, als sie die menschliche Rede auszudrücken vermag. Sie ist die Offenbarung des Unendlichen und wenn du singst, gehöre ich der Menschheit nur noch mit dem an was die Menschheit Göttliches und Ewiges aus des Schöpfers eigenem Wesen schöpfte.
Trost und Ermutigung, die mir im gemeinen Laufe des Lebens dein Mund versagt, die deinem Busen die Tyrannei der geselligen Verhältnisse mir auszuströmen wehrt, spendet hundertfach mir dein Gesang. Dann ergießest du dich in mich mit deinem ganzen Wesen und meine Seele hat dich ganz in Lust und Schmerz, in Hoffnung und in Angst, in schwelgendem Entzücken und in sehnlichem Vergehn.
Bisweilen sagte Albert dies in Gegenwart der Seinigen auf Spanisch. Allein das offenbare Missvergnügen, welches diese eigene Art von Beiseiteziehen dem Stiftsfräulein verursachte und das Gefühl für Schicklichkeit, hielten das junge Mädchen ab, darauf zu antworten. Eines Tages endlich traf sie ihn im Garten allein, und da er wieder von dem Glücke anfing, welches sie durch ihren Gesang ihm schenkte, sagte sie:
– Wenn die Musik eine vollkommnere und überzeugendere Sprache ist als die Rede, warum sprechen Sie sie nie mit mir, da Sie sie doch vielleicht noch besser als ich verstehen.
– Was wollen Sie damit sagen, Consuelo? fragte der junge Graf erstaunt. Ich bin nur Musiker, indem ich Sie höre.
– Suchen Sie mich nicht zu hintergehen! antwortete sie. Ich habe nur ein einziges Mal in meinem Leben aus einer Violine einen wahrhaft menschlichen Gesang ziehen hören, und zwar von Ihnen, Albert, in der Grotte unter dem Schreckenstein. Ich habe Sie damals gehört, ehe Sie mich gesehen hatten. Ich habe Ihr Geheimnis belauscht, Sie müssen es mir vergeben und müssen mir diese bewundernswürdige Melodie, von der ich einiges behalten habe, und welche mir neue Schönheiten in der Musik aufschloss, wieder einmal vorspielen.
Consuelo gab mit halber Stimme die Stellen der Melodie an, deren sie sich dunkel erinnerte und die Albert sogleich erkannte.
– Es ist ein Volksgesang, sagte er, auf hussitische Worte. Der Text ist von meinem Ahnherrn Hinko Podiebrad, dem Sohne des Königs Georg, der einer der Dichter unseres Landes war. Wir haben eine Masse wunderherrlicher Gedichte von Georg Streye, Simon Lomnicky und anderen, welche die kaiserliche Polizei auf den Index gesetzt hat. Diese geistlichen Nationalgesänge,