Winter hörte es mit Freude, denn er war sicher, daß Susanne mehr Kraft hatte, gegen den Tumor anzukämpfen, wenn sie von gesunder Wut erfüllt war. Wenn sie mit Elan daranging, dieses Ding in ihrem Körper zu hassen – und wenn sie alles daransetzte, es zu besiegen.
Es fiel dem Arzt nicht leicht, offen mit der jungen Frau zu sprechen, doch es mußte sein, und so begann er mit seinen Erläuterungen.
»Wir haben jetzt alle Untersuchungsergebnisse ausgewertet«, faßte er zusammen, »und es gibt eigentlich nur eine Erklärung dafür, daß Sie nicht laufen können: Der Tumor, der durch die Computertomographie deutlich sichtbar gemacht wurde, drückt auf Nervenstränge, und deshalb können Sie im Augenblick die Beine nicht bewegen.«
Susanne schloß sekundenlang die Augen. Sie wußte, was diese Worte bedeuteten. Nach einer Weile erst konnte sie fragen: »Und die Chancen, den Tumor zu beseitigen? Wie hoch sind die?«
Dr. Winter zögerte. Er blätterte noch einmal die Mappe durch, in der sich alle Unterlagen befanden, obwohl er jedes Blatt genau kannte. Er hatte alle Anamnesebögen sorgfältig studiert, hatte jedes Für und Wider erwogen…
»Was ist das alles?« fragte Susanne und sah ihn aus großen angsterfüllten Augen an. »Bitte, Dr. Winter, sagen Sie mir die Wahrheit. Ich weiß, daß ich sie ertragen kann. Besser als diese furchtbare Ungewißheit.«
Adrian nickte. Er konnte verstehen, was die junge Patientin empfand, und er wollte sie auch so umfassend aufklären, wie es zu verantworten war. Deshalb nahm er eins der Untersuchungsblätter heraus und legte es so aufs Bett, daß Susanne mitlesen konnte.
»Ich… ich verstehe nicht, was das bedeuten soll«, sagte sie nach einem ersten flüchtigen Blick.
»Das können Sie auch nicht. Augenblick, ich erkläre Ihnen alles.« Er zog einen Kugelschreiber heraus und wies damit auf ein paar Zahlenkolonnen. »Das sind die Ergebnisse der Laborwerte. Hier das sind Blutdruckwerte, die sind ganz in Ordnung. Und dieses hier…« Er griff nach einem weiteren Blatt, »… dies sind grafische Darstellungen des Rückens. Und natürlich in erster Linie der Wirbelsäule.«
Absichtlich drückte er sich recht vage aus, aber Susanne war viel zu intelligent, um nicht weiter zu fragen. »Und? Was heißt das, wenn Sie mir sagen, daß vor allem die Blutdruckwerte zufriedenstellend sind? Mir sagt das nur, daß alles andere nicht in Ordnung zu sein scheint.« Sie biß sich auf die Lippen, aber sie zwang sich, den Arzt offen anzuschauen.
Adrian nickte. »Leider haben Sie recht. Alles andere gibt zur Besorgnis Anlaß.« Er holte ein paar Röntgenbilder aus der Mappe und wies auf eine ganz bestimmte Stelle. »Sehen Sie hier die Ausbuchtung? Das scheint ein Tumor zu sein. Er drückt aufs Rückenmark, deshalb können Sie sich nicht bewegen.«
Susanne blieb eine Weile still, dann seufzte sie laut auf. »Gelähmt«, meinte sie dann, und ihre Stimme schien kaum noch Klang zu haben. »Ich bin gelähmt, weil dieser Tumor…« Sie brach ab und griff nach Adrians Hand, drückte sie fast schmerzhaft fest. »Aber wieso denn so plötzlich? Ich hab’ doch nie was gemerkt! Es kann doch nicht sein, daß man von einer Sekunde zur anderen gelähmt ist!«
»Sie haben von Rückenschmerzen gesprochen«, erinnerte er sie. »Und Sie haben diese Beschwerden nicht untersuchen lassen. Vielleicht wäre ein Kollege schon vor Wochen auf den Tumor gestoßen.«
»Aber so ein bißchen Reißen und Drücken… das hat doch jeder mal!« Jetzt liefen Tränen aus ihren Augen, sie wischte sie mit einer fast trotzigen Bewegung fort. »Und jetzt? Was wollen Sie tun?«
Adrian nahm die Blätter wieder an sich und verstaute sie in der Mappe. »Wir müssen versuchen zu operieren«, sagte er zögernd. »Aber das ist nicht so einfach. Sie haben die Lage des Tumors gesehen… ich vermute, daß er infolge des Unfalls seine Position leicht verändert hat, das sagte ich ja schon. Und deshalb steht zu befürchten, daß er sich noch weiter ins Knochenmark hineinfrißt.«
»Dann verhindern Sie das doch!« schrie Susanne unterdrückt auf. »Sie können doch nicht einfach zusehen, wie ich…«
»Nicht doch.« Adrian legte die Hand auf ihre zitternden Finger und hielt sie fest umschlossen. »Glauben Sie mir, Susanne, wir versuchen Ihnen so optimal wie möglich zu helfen. Aber bevor wir etwas unternehmen, müssen wir ein Team von Spezialisten zusammenstellen. Ein normaler Chirurg wie ich kann das einfach nicht leisten.«
Sie sah ihn aus tränenfeuchten Augen an. »Zu Ihnen habe ich aber Vertrauen«, gestand sie.
Adrian sah sie warm an. »Danke, das ist sehr ehrenvoll, aber es wäre vermessen, wenn ich mich allein an einen solchen Eingriff wagen würde.«
»Und… wer soll das dann wagen?« fragte sie.
»Ich habe mit einem Professor aus Hannover telefoniert. Und mit einem ehemaligen Studienfreund, der jetzt in London arbeitet. Er ist vielleicht bereit, zu kommen.«
»Und? Ist er gut?«
»Er ist der Beste, wenn Sie mich fragen. Das Problem ist nur, ob wir unsere Termine koordiniert bekommen.«
»Hoffentlich.« Susanne schloß für Sekundenbruchteile die Augen, dann flüsterte sie: »Ich möchte so gern noch leben, Dr. Winter. Und… ich möchte gehen können. Ein Leben im Rollstuhl ist einfach grausam!«
»Aber es ist ein lebenswertes Leben.« Der Arzt erhob sich. »Glauben Sie mir, ich kenne viele Patienten, die sich mit ihrem Schicksal sehr gut arrangiert haben und viel Positives erleben. Es kommt immer auf die Einstellung an. Und auf den Willen, der jeweiligen Situation das Beste abzugewinnen.«
»Ich weiß.« Susanne mußte wieder eine Träne aus dem Augenwinkel wischen. »Und ich will auch nicht zu viel vom Schicksal verlangen. Aber… ich kann’s mir einfach nicht vorstellen, wie es wohl ist, nie wieder laufen, nie wieder tanzen – und nie wieder lieben zu können.«
Darauf konnte Dr. Winter nichts erwidern. Auch er wußte nicht, wie man sich dann fühlte. Und er fand, daß jetzt jedes weitere Wort nur hohl und leer – und Lüge gewesen wäre. Deshalb stand er auf und sagte nur: »Ich versuche alles, um Dr. Franklin dazu zu bewegen, herzukommen. Das verspreche ich Ihnen, Susanne.«
»Danke.« Sie sah ihm nach. Mit brennenden Augen – und mit einer winzigkleinen Hoffnung im Herzen. Adrian jedoch ging in sein Büro und wertete noch einmal alle Untersuchungsergebnisse aus. Das, was dabei herauskam, war deprimierend.
*
»Und? Wie steht es? Hast du mit deinem Studienfreund gesprochen?« Dr. Roloff, der Anästhesist der Kurfürsten-Klinik, kam ins Büro und sah die Krankenakte von Susanne Burgmer auf Adrians Schreibtisch liegen. »Wird er der jungen Frau helfen können?«
Adrian zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Er will sich alles ansehen – mehr hat er nicht versprochen.«
»Die Zeit drängt aber«, mahnte der Anästhesist. »Wenn du mich fragst, handelt es sich um einen massiv wachsenden und höchst aggressiven Tumor. Da ist jeder Tag im Grunde kostbar.«
»Ich weiß, ich weiß.« Adrian Winter seufzte. »Aber mir ist auch bewußt, daß ich Julian Franklin nicht allzu stark unter Druck setzen kann. Schließlich hat er seine Arbeit an der Klinik – und ist Dozent an der Uni. Das alles muß man erst mal unter einen Hut bringen.«
»Das sagst gerade du!« Werner Roloff grinste ein bißchen schief. »Wenn’s um das Wohl deiner Patienten geht, bist du doch im Grunde bereit, auf allen Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen.«
»Aber nicht immer mit Erfolg.« Adrian griff wieder nach der Anamnese-Mappe. »Sieh nur, hier…« Er wies wieder einmal auf die Stelle der Computertomographie, auf der der Tumor deutlich zu erkennen war.
»Ja, ja, ich weiß«, nickte Dr. Roloff. »Man sieht ganz deutlich, wie eine Ausbuchtung der Geschwulst auf den spinalen Kanal drückt und somit das Rückenmark beengt, ohne es allerdings zu unterbrechen.«
»Das ist das einzig Gute an der Sache.« Adrian seufzte. »Ich möchte morgen nochmals eine CT machen, mal sehen, wie die Sache sich in den letzten