Er ging auf Zehenspitzen näher. »Wie fühlst du dich, Schatz?« fragte er und berührte ihre Hand auf der Bettdecke sehr vorsichtig.
Susanne schlug die Augen auf. »Ach, Jonas…« Sie lächelte matt. »Geht’s dir gut? Haben Sie dich entlassen?« Sie wies auf den Stuhl, der neben dem Bett stand. »Setz dich doch. Bist sicher noch nicht ganz sicher auf den Beinen.«
Forschend sah er sie an. Schwang vielleicht Ironie in ihrer Stimme mit oder glaubte sie wirklich, daß er bis vor kurzem noch in der Klinik gelegen hatte?
Nein, ihre Miene war ganz ernst, ihr Blick sorgenvoll auf ihn gerichtet. Also glaubte sie wirklich, daß auch er noch bis vor kurzem Patient gewesen war.
»Ich hab den Unfall ganz gut überstanden«, antwortete er und räusperte sich die Kehle frei. »Mir geht’s wieder ganz gut. Die Verletzungen sind ausgeheilt, die Ärzte haben mir sogar schon wieder leichtes Training erlaubt.«
»Schön für dich.« Sie biß sich kurz auf die Lippen. »Mit mir geht’s leider gar nicht aufwärts.«
»Aber ja doch.« Er mußte sich beinahe dazu zwingen, sich über sie zu beugen und ihr einen Kuß zu geben. »Du brauchst nur mehr Zeit. Schließlich warst du schwerer verletzt als ich…« Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Ach, Susanne, es tut mir so leid. Aber ich hab’ diesen anderen Wagen einfach nicht gesehen.«
»Ich doch auch nicht.« Sie hob die Hand und streichelte seine Wange. »Mach dir deshalb keine Sorgen. Die Polizei war auch schon hier und hat mich als Zeugin verhören wollen, aber ich konnte gar nichts aussagen. Ich weiß von dem Unfall gar nichts mehr. Es ist, als wären diese Minuten ganz aus meinem Gedächtnis ausgelöscht worden. Dr. Winter meint allerdings, daß das ganz normal ist. Irgendwann kommt der Tag, an dem mir alles wieder bewußt ist, was da geschehen ist.«
»Das glaube ich auch.« Jonas spürte einen Herzschlag wie einen schweren Vorschlaghammer in der Brust. Die Selbstvorwürfe quälten ihn, das schlechte Gewissen peinigte. Aber da war auch ein Drang, der nur forderte, endlich von hier zu verschwinden, sich nicht mehr zu kümmern, alles, was mit Susanne, ihrem Unfall und ihrer wahrscheinlichen Krankheit zu tun hatte, zu ignorieren.
»Die Rosen.« Er wies auf den Blumenstrauß, den er bei der Begrüßung auf die Bettdecke gelegt hatte. »Ich hole eine Vase.«
»Ich kann doch der Schwester klingeln«, wandte Susanne ein. »Die sind alle so lieb hier. Sie verwöhnen mich – und mir ist es oft so peinlich, daß ich sie immer belästigen muß. Aber da ich ja nicht aufstehen kann…« Sie biß sich auf die Lippen.
»Nun, dann werde ich die Schwestern wenigstens ein Mal entlasten und jetzt eine Vase organisieren«, meinte Jonas und erhob sich.
Susanne widersprach nicht mehr. Sie spürte genau, daß Jonas sich unwohl fühlte, und sie konnte ihn auch gut verstehen. Es war für ihn, den Agilen und immer in Bewegung Seienden sicher schwer, bei ihr am Krankenbett zu sitzen.
Dabei brauchte sie ihn jetzt so sehr! Angst quälte Susanne. Angst vor der Diagnose, die auf sie wartete, Angst vor der Zukunft.
Es war der jungen Frau seit Tagen klar, daß sie nicht nur an den Unfallfolgen litt. Irgend etwas war passiert mit ihr, etwas, das sie lähmte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Dr. Winter, der sympathische Chefarzt der Unfallstation, hatte schon zum zweiten Mal eine umfangreiche Untersuchung vorgenommen, er hatte eine CT anfertigen lassen, hatte ihr Blut kontrolliert und sie nach vorhergehenden Beschwerden gefragt. Aber Susanne konnte sich an nichts erinnern. Nur an vage Rückenschmerzen, aber die hatte ja jeder mal, wenn er ein paar anstrengende Tage hinter sich hatte.
Jonas kam zurück und stellte den üppigen Rosenstrauß in eine Vase. Rote Rosen… Blumen der Liebe!
Susanne sah den Mann an, den sie doch eigentlich zu lieben geglaubt hatte und fragte sich, ob das Gefühl für ihn wirklich so groß, so einmalig war. Jonas war ein lieber Kerl. Er war amüsant, unterhaltsam, konnte charmant und weltgewandt sein. Aber er war auch oft eigensinnig, verschlossen – und sehr egoistisch.
Merkwürdig, daß diese negative Charaktereigenschaft ihr gerade jetzt einfiel. Oder – war es gar nicht so ungewöhnlich? Sie machte sich bewußt, daß sie schon viel länger als eine Woche hier in der Klinik lag. Und einige Tage war auch Jonas hier Patient gewesen.
Doch er war, wie sie hörte, nicht strikt ans Bett gefesselt gewesen. Wenn er es unbedingt gewollt hätte, wäre es ihm sicher erlaubt worden, sie einmal zu besuchen. Aber er hatte es nicht getan. Heute erst, da er schon lange entlassen war, kam er zum ersten Mal.
Das tat weh. Denn es machte ihr bewußt, daß Jonas’ Gefühle für sie nicht tief und aufrichtig sein konnten.
»Was ist denn mit dir los?« fragte er in diesem Moment. »Ich rede und rede – und du scheinst mir gar nicht zuzuhören.«
Susanne zuckte zusammen und sah ihn ein wenig schuldbewußt an. »Tut mir leid«, murmelte sie. »Was hast du denn gesagt?«
»Ich hab’ vom Training erzählt, und von Budapest.« Er schüttelte den Kopf. »Aber das interessiert dich ja jetzt sicher nicht.«
»Dein Training…« Susanne biß sich auf die Lippen. »Seit wann bist du denn schon wieder dabei?«
»Seit drei Tagen«, erwiderte er spontan und verriet damit, wie gut er sich bereits wieder fühlte.
»Schön für dich.« Sie schloß sekundenlang die Augen, dann sagte sie: »Tut mir leid, Jonas, aber ich bin völlig erschöpft. Geh jetzt, ja?«
»Aber ich…«
»Bitte.« Sie reichte ihm die Hand und wartete, ob er sich wohl über sie beugen und sie küssen würde. Aber er hauchte nur einen kurzen Kuß auf ihre Wange, strich ihr übers Haar und zog sich zurück. Er wirkte erleichtert, und Susanne sah sich in ihren schlimmsten Ahnungen bestätigt.
Jonas war kein Mann, der sich mit einer kranken Frau belastete. Er wollte eine hübsche Begleiterin, eine Partnerin, die für ihn da war. Umgekehrt… nein, das war nicht sein Ding! »Ich komme wieder, ja?« fragte er schon von der Tür her.
»Ist gut.« Sie hielt die Augen geschlossen. »Bis dann.«
»Tschau, Susanne.« Er zog die Tür leise hinter sich ins Schloß und verließ die Kurfürsten-Klinik fast wie in Panik.
Susanne blieb allein zurück. Tränen liefen jetzt über ihre Wangen, und sie spürte, daß alles, was vor kurzem noch von Bedeutung für sie gewesen war, jetzt dahinschwand.
So fand sie Dr. Winter, als er das Zimmer betrat, um den Behandlungsplan der kommenden Tage mit Susanne durchzusprechen. Der Arzt hatte an diesem Morgen lange mit seinen Kollegen diskutiert, und alle waren einer Meinung: Die Patientin Susanne Burgmer litt an einem rasch wachsenden Tumor im Wirbelsäulenbereich. Einem Tumor, der sich jetzt, durch den Unfall und den harten Aufprall, vielleicht etwas verschoben hatte und eine Lähmung auslöste. Eine Lähmung, die sich sowieso bald eingestellt hätte.
Jetzt aber bestand erhöhter Handlungsbedarf, und es wurde Zeit, mit der Patientin offen zu reden. Sie war inzwischen wieder so stabilisiert, daß man ihr zumuten konnte, eine offene Unterhaltung über ihre Krankheit zu führen.
Dr. Winter sah bestürzt, daß Susanne weinte. »Was ist passiert?« erkundigte er sich und zog sich den Stuhl nahe ans Bett. Vorsichtig nahm er Susannes Hände in die seinen.
»Ich… es ist… ach, es ist alles so trostlos«, murmelte die junge Frau und drehte den Kopf zur Seite, so gut es eben ging.
»Es gibt einen Spruch, den hat mir meine Oma oft gesagt«, erwiderte Adrian Winter. »Und auch meine alte Nachbarin, die sehr lebensklug ist, zitiert ihn hin und wieder. Wollen Sie ihn hören?«
Beinahe unmerklich nickte Susanne. Doch Adrian hatte es registriert, und er sagte: »Der Spruch lautete: ›Immer, wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.‹ Und glauben Sie mir, Susanne, an dieser simplen Aussage ist viel Wahrheit. Wie oft habe ich schon erfahren, daß dann, wenn man denkt, nie aus einem dunklen Tunnel herausfinden zu können,