allerdings sowohl bei der Beschreibung der Verbrechen als auch in den Auseinandersetzungen mit den Selbstdeutungen der Soldaten bis vor wenigen Jahren nur selten explizit aufgegriffen.
Zwar hatte die Journalistin Susan Brownmiller schon 1975 in» Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft «die These aufgestellt, die Angehörigen von Wehrmacht und SS hätten in Osteuropa und Russland massenhaft sexuelle Gewaltverbrechen gegen Frauen verübt und Vergewaltigung gezielt als Waffe eingesetzt;[31] dem wurde in der Forschung aber lange nicht systematisch nachgegangen. Vielmehr übernahmen viele Brownmillers These, ohne sie auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen.[32]
Zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Brownmillers Buch in den USA tauchte die Frage nach dem sexuellen Verhalten der Soldaten in der Sowjetunion erstmals auch in der historischen Forschung in Deutschland auf. Franz W. Seidler widmete sich 1977 dem Thema» Prostitution, Homosexualität, Selbstverstümmelung. Probleme der deutschen Wehrmachtssanitätsführung «und zeigte, dass die Befriedigung sexueller Bedürfnisse und die Eindämmung sexuell übertragbarer Krankheiten für Wehrmacht und SS in allen besetzten Gebieten zum militärischen Kalkül gehört hatten.[33] Mit seiner umfangreichen Dokumentation von Aktenmaterial zeichnete er die Behandlungsmethoden bei Gonorrhö- und Syphiliserkrankungen nach, beschrieb den Aufbau wehrmachtseigener Bordelle und deutete sogar an, dass die Freiwilligkeit mancher Frauen, die in der Sowjetunion in solchen Häusern Dienste leisteten, begrenzt gewesen sein dürfte. Dabei übernahm Seidler, der Jahre später aufgrund seiner geschichtsrevisionistischen Darstellungen in die Kritik geriet,[34] allerdings die Sichtweise der Wehrmacht und leistete keinerlei kritische Aufarbeitung.[35]
In der ersten großen Studie zu den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD machten Helmut Krausnick und Hans-Heinrich Wilhelm 1981 darauf aufmerksam, dass auch sexuelle Gewalttaten im Krieg gegen die Sowjetunion kein Einzelfall waren und es zu klären gelte, wie die militärische Führung darauf reagiert habe. Während Krausnicks Darstellung nahelegte, die Truppenführer seien strikt gegen solche Taten vorgegangen, war Wilhelm der Ansicht, die Männer hätten selbst bei offensichtlichen Verstößen gegen die NS-Rassengesetze nicht mit Konsequenzen zu rechnen gehabt.[36] Trotz solcher Ansätze erschienen sexuelle Gewaltverbrechen in der Geschichtsschreibung zum Vernichtungskrieg bis vor kurzem bestenfalls als Ausnahmefall, als Schritt in einer Gewaltdynamik, die formelhaft mit der Triade Mord – Plünderung – Vergewaltigung umschrieben wurde, oder als verbreitete, aber letztlich nicht konkretisierbare Folge der Brutalisierung im Zuge des Krieges.[37] Hannes Heer etwa spricht von» Mordlust und Sadismus, Gefühlskälte und sexuelle[n] Perversionen «bei» große[n] Teile[n] der Truppe«, die an der Verfolgung der Jüdinnen und Juden in Weißrussland beteiligt waren. Wie sich diese sexuellen Perversionen ausdrückten und was sie bedeuteten, lässt er jedoch offen.[38] Und in vielen regionalen oder thematischen Mikrostudien werden zwar einzelne Fälle von sexueller Gewalt, Prostitution oder auch einvernehmlichen Verhältnissen erwähnt, aber nicht systematisch untersucht.[39] Dies mag zum einen mit der oft spärlichen und komplizierten Quellenlage zusammenhängen und zum anderen darin begründet liegen, dass es problematisch ist, eine Darstellungsform zu finden, die nicht trivialisierend oder voyeuristisch wirkt. Darüber hinaus ist die Forschungslücke aber wohl auch damit zu erklären, dass die Auseinandersetzung mit der Verwobenheit von Krieg, Gewalt und Sexualität auf besondere Weise affektiv aufgeladen ist und die Interdependenz, in die Sexualität und Gewalt im Krieg geraten, nach wie vor als unvermeidliches und unhinterfragt hinzunehmendes Faktum gesehen wird, das nur dann der Erforschung bedarf, wenn man darin ein besonders brutales Vorgehen oder eine Kriegsstrategie erkennt.[40]
Erst in den vergangenen Jahren wurden vereinzelt Untersuchungen vorgelegt, die sich eingehender mit dem Thema auseinandersetzen. In der ersten systematischen Studie» Wehrmacht und sexuelle Gewalt «aus dem Jahr 2004 untersucht Birgit Beck den Umgang der Wehrmachtsjustiz mit Soldaten, die der» Notzucht «angeklagt wurden. Sie geht davon aus, dass es sich bei Vergewaltigung durch Wehrmachtssoldaten nicht nur um Ausnahmefälle handelte. Gleichzeitig betont sie, man könne nicht von einer Waffe im Rahmen einer breit angelegten, militärisch befohlenen Strategie sprechen: Denn erstens gebe es bis heute keine Hinweise darauf, dass Vergewaltigung angeordnet oder die Männer dazu aufgefordert wurden. Und zweitens sei» Notzucht «ein Straftatbestand in den Gesetzbüchern der Wehrmacht, und die Militärrichter haben Soldaten deswegen mitunter auch verurteilt.[41]
Von den über 17 Millionen an allen Fronten eingesetzten deutschen Soldaten wurden laut offizieller Wehrmachtskriminalstatistik bis 1944 nur 5349 Männer wegen» Sittlichkeitsdelikten«– vor allem» Notzucht«,»Unzucht mit Männern«,»verbotenem Geschlechtsverkehr «und» verbotenen Abtreibungen«– verurteilt. Im gleichen Zeitraum kam es zu 1,5 Millionen Verurteilungen aufgrund von» Fahnenflucht«,»Selbstverstümmelung «und» Zersetzung der Wehrkraft«. Die Wehrmachtsgerichte maßen den» Sittlichkeitsdelikten «also eine deutlich geringere Bedeutung bei. Kam es dennoch zu Gerichtsverfahren gegen Männer, die der Vergewaltigung bezichtigt wurden, ahndeten die Richter vor allem den Umstand, dass die Rekruten die Disziplin und das Ansehen der Truppe verletzt hatten. An der Ostfront wurde sexuelle Gewalt gegen Frauen im Vergleich zur Westfront deutlich seltener gerichtlich verfolgt, und das Strafmaß fiel in der Tendenz niedriger aus – was Beck in erster Linie auf die Kriegführung in Polen und der Sowjetunion und den» Kriegsgerichtsbarkeitserlass «vom 13. Mai 1941 zurückführt, der eine» präventive Amnestie«(Jürgen Förster) für Verbrechen deutscher Soldaten gegen die sowjetische Zivilbevölkerung darstellte.[42] Christian Thomas Huber betont demgegenüber, dass die in der Sowjetunion wohl wesentlich höhere Dunkelziffer sexueller Gewaltverbrechen auch von den unterschiedlichen Ermittlungsweisen herrühre: Während sexuelle Gewalttaten an der Westfront in der Regel von den Opfern oder ihren Familien angezeigt wurden, seien an der Ostfront meist deutsche Vorgesetzte oder Dolmetscher einem Gerücht nachgegangen. Dies habe naturgemäß zu weniger Meldungen und Anklagen geführt.[43]
David Raub Snyder untersucht in seinem Buch» Sex Crimes under the Wehrmacht «ganz ähnliche Aktenbestände wie Beck.[44] Sein Interesse richtet sich jedoch stärker auf die Analyse und Bewertung des militärischen Justizapparats. Während Becks Untersuchung mit der Urteilsverkündung aufhört, widmet Snyder sich auch der Frage, ob die Männer ihre Strafen absitzen mussten. Er zeigt, dass insbesondere Soldaten, die sich durch Tapferkeit oder andere militärisch verwertbare Tugenden ausgezeichnet hatten, mit größter Nachsicht der Militärrichter rechnen konnten, selbst wenn sie eine als» rassisch unerwünscht «erachtete russische Frau oder eine Jüdin vergewaltigt hatten oder homosexuell aktiv gewesen waren. Snyder verdeutlicht, dass die Wehrmachtsrichter vor allem nach Kriterien militärischer Effizienz entschieden, wobei er militärische Ratio und NS-Ideologie meines Erachtens allzu strikt voneinander trennt. Die Sprache der Richter, so Snyder,»klingt wie die des Nationalsozialismus, aber Ideologie scheint hier nicht am Werke gewesen zu sein«.[45] Mit dieser Einschätzung setzt sich Snyder weder damit auseinander, dass der juristische Apparat selbst von ideologischen Prämissen durchdrungen war, noch fragt er nach der Geschlechterideologie, die den Urteilen zugrunde lag. Letztere hat Beck in ihrer Analyse der richterlichen Vorstellungen von» weiblicher Geschlechtsehre «und» männlicher Geschlechtsnot «hinlänglich dokumentiert.[46]
Manche Autoren gehen davon aus, die NS-Ideologeme» Rassebewusstsein «und» Manneszucht «hätten dazu geführt, dass sexuelle Gewalttaten in der Wehrmacht die absolute Ausnahme gewesen und hart, nicht selten mit der Todesstrafe, geahndet worden seien. Dabei beziehen sie sich allerdings in der Regel lediglich auf die Schilderung von Einzelfällen.