In einer Atmosphäre, die von Langeweile, Aggressionen und der Angst vor Tod und Verstümmelung geprägt war, kam es zwischen den Soldaten zu Konflikten, mitunter sogar zu Schlägereien.[102]
Die Kameradschaft in der Wehrmacht war aber auch durch eine Reihe von Praktiken gekennzeichnet, die den Männern angesichts des immer brutaler geführten Krieges Trost und Geborgenheit vermittelten: gegenseitige Fürsorge, gemeinsame Mahlzeiten, umschichtiges Wäschewaschen et cetera.[103] Kühne zeichnet das Modell einer asexuellen mann-männlichen Fürsorgebeziehung, bei der die Soldaten sich an ihrer Erfahrung der Mutter-Sohn-Bindung orientierten.[104] Konstitutiv für diese mann-männliche Beziehung waren zum einen der Ausschluss von Frauen, der sich immer neu vollzog, obgleich auch Frauen an den Einsätzen beteiligt waren,[105] und zum anderen eine spezifisch ausgeprägte Homophobie.[106]
Bei den Bädern in Seen und Bächen sowie dem Abduschen nach den Märschen, von denen in den Briefen und Tagebüchern der Soldaten vor allem in den heißen Sommern 1941 und 1942 immer wieder die Rede ist,[107] nahmen die Männer offenbar wenig Rücksicht darauf, was die einheimische Bevölkerung von ihnen dachte. Am 9. Juli 1942 notierte Artillerie-General Jürgen W. in sein Tagebuch:»Es ist sehr heiß. Wir machen große Wäsche, staunend und kichernd sehen die ›Matkas‹ zu, wie wir uns, splitternackt auf dem Hof stehend, von oben bis unten abseifen. Viel nützt es ja nicht […], aber es ist eine große Erfrischung.«[108] Dass viele Soldaten wenig Hemmungen zeigten, sich vor den» Mätterchen«, aber auch den jungen Frauen nackt oder halbnackt auszuziehen, verdeutlicht ein Foto im Bestand von Jürgen W., auf dem deutsche Soldaten Schwarzhandelswaren mit einheimischen Frauen tauschen. Während die Frauen auf dem Bild alle voll bekleidet sind, stehen die Männer ihnen mit nacktem Oberkörper oder sogar nur in Badehose gegenüber. Dieses Verhalten hatte Wirkung auf die einheimische Bevölkerung. Während manche Frauen auf derartigen Fotos eher amüsiert oder verunsichert zu sein scheinen, zeigten sich andere empört. Der Schriftsteller Aleksej Surkov hörte im Oktober 1942 ein Gespräch unter Frauen in einem gerade erst von Deutschen» befreiten «Dorf in Russland mit. Eine der Frauen klagte:»Und wie sich diese Schamlosen in Anwesenheit von Frauen nackt ausziehen, im Trog planschen […]! Dann jagen sie den Mädchen und jungen Frauen nach wie wild gewordene Hengste. Stürzen sich auf sie. […] Schamlos.«[109] Es ist offensichtlich, dass die Perspektive der deutschen Männer und die der einheimischen Frauen mitunter weit auseinanderklafften. Was die Männer als harmlosen Zeitvertreib erachteten, konnte für die Frauen abstoßend sein und ihnen die Möglichkeit eines sexuellen Übergriffs vor Augen führen. Dürften die Begegnungen der einheimischen Bevölkerung mit den Soldaten je nach Region und Einstellung der militärischen Einheit auch unterschiedlich gewesen sein, so präsentierte sich das Gros der Deutschen doch als Sieger,[110] und viele von ihnen legten ein entsprechendes körperliches Auftreten an den Tag.
Man kann davon ausgehen, dass sich die damit verbundenen Gefühle wie Körperbeherrschung und Euphorie im Laufe des Krieges veränderten. Die grundlegende Erfahrung an der Front war, dass das eigene Überleben vom Zufall abhing. Zwar lernten erfahrene Soldaten mit der Zeit, besonders riskante Situationen oder Verhaltensweisen zu vermeiden, doch gegen den jederzeit möglichen Angriff von sowjetischen Soldaten oder Partisanen gab es letztlich keinen Schutz. Gerade viele einfache Soldaten ohne Offiziersrang, die keinen Einfluss auf das Kriegsgeschehen nehmen konnten, scheinen sich dem Kampf ab 1943 schicksalhaft ausgeliefert gefühlt zu haben.[111] Ob sie ihre Männlichkeit beweisen und sich als Kämpfer bestätigen wollten, ob sie überzeugte Nationalsozialisten waren oder ob sie eine unangenehme Pflicht erfüllten und möglichst schnell nach Hause kommen wollten – in der Weite des sowjetischen Territoriums wurden alle Erwartungen und Hoffnungen mit der Zeit zunichtegemacht. Durchaus mit Respekt erkannten viele Männer die Zähigkeit und den Kampfgeist der sowjetischen Soldaten an.[112] Ihre überlegene Bewaffnung brachte ihnen auf Dauer keinen Vorteil, die deutschen Truppen erlitten immer größere Verluste, und allen drohte jederzeit der Tod. In dieser Situation traten Schilderungen des eigenen Tuns in den Tagebüchern und Briefen der Männer zurück, stattdessen versuchten sie, sich selbst und ihre Angehörigen mit Floskeln und Durchhalteparolen zu beruhigen oder zu ermutigen.[113]
Während sich den zeitgenössischen Selbstzeugnissen vielschichtige Einsichten über das Denken und die Wahrnehmung der Soldaten entnehmen lassen, sind offene Hinweise auf Sexualität selten. Sexualität war etwas, worüber die Männer vielleicht untereinander frotzelten oder obszöne Kommentare abgaben, aber in der Regel nicht schrieben. Zum einen dürften viele es als eine normale, aber besser zu verschweigende Grenzüberschreitung erachtet haben, inmitten von Krieg, Gewalt und Entbehrungen sexuellen Lüsten nachzugehen. Zum anderen richteten sich insbesondere die Feldpostbriefe meist an Eltern, Ehefrauen, Verlobte oder Freundinnen. Die Kontinuität der familiären Bindung wurde durch solche Briefe immer wieder bestätigt oder erst erzeugt und half vielen vermutlich dabei, Gefühlen der Ohnmacht, Angst und Bindungslosigkeit zu begegnen. Immer wieder versicherten die Männer ihre Angehörigen in den Briefen ihrer Zuneigung und Treue und verliehen ihrer Eifersucht und Sorge Ausdruck, die Partnerin könnte sich in der Heimat einen anderen Mann gesucht haben. Was die Männer selbst an der Front» anstellten«, hatte in solchen Briefen keinen Platz.[114] Wenn überhaupt, berichteten sie über harmlose Flirts oder über die sexuellen Erlebnisse ihrer Kameraden. Otto Hilger schrieb am 19. Januar 1942 an seine Ehefrau:
F. hat seinen wahren Charakter in Bezug auf Weiberverkehr hier gezeigt. Einige Nächte hintereinander machte er so fort, und das nicht immer bei derselben, gestern Nacht wollte er wieder gehen, aber die Stelle war besetzt, eine Frau, deren Mann nach Sibirien verschleppt wurde, hat er so weit bearbeitet, bis er soweit war und noch mehr hat er besucht, die man bei uns Dirnen nennt. Da braucht er ja vor seiner Frau nicht mehr über sie reden, meinst du nicht auch?[115]
Hilger ist im Juni 1901 geboren, zum Zeitpunkt seines Briefes 40 Jahre alt und schon lange verheiratet. Mit der Schilderung der sexuellen Ausschweifungen seines ebenfalls verheirateten Kameraden mag er versucht haben, sich selbst davon abzugrenzen und die eigene Treue herauszustellen. Dies blieb aber ambivalent, ließ er seine Ehefrau doch indirekt auch wissen, welche Möglichkeiten den Soldaten offenstanden.
Tagebücher geben gegenüber Feldpostbriefen meist direkter Auskunft über Sexualität. Da die militärischen Operationen zumeist im Zentrum der Aufzeichnungen standen, war von sexuellen Zusammentreffen vor allem dann die Rede, wenn die Verfasser versuchten, ihre Untergebenen zu disziplinieren und von sexuellen Aktivitäten abzuhalten, oder wenn sie im Gegenteil darauf aus waren, sie zu besänftigen, und ihre Ausschweifungen tolerierten.[116]
Auch wenn die zeitgenössischen Selbstzeugnisse in der Gesamtschau nur vereinzelt Aufschluss über sexuelle Aktivitäten geben oder kurze Beschreibungen von entsprechenden Regulierungsmaßnahmen enthalten, vermitteln sie doch einen Eindruck davon, welche Rahmenbedingungen dabei entscheidend waren: die Gefühle der Männer (Überlegenheit, Macht, Euphorie, Langeweile, Heimweh, Einsamkeit, Ohnmacht, Angst), ihre Körperwahrnehmung (Gesundheit, Krankheit, Körperbeherrschung, Kontrolle, Kontrollverlust) und ihre Position innerhalb der Truppe (Gruppendruck, Kohäsion, Zerfall, Selbstvergewisserung, Ausschluss).
Für die Führung von Wehrmacht und SS hatten sexuelle Zusammentreffen von deutschen Männern und einheimischen Frauen einen festen Platz im Gefüge militärischer Politik. Bereits in Frankreich, Polen und anderen besetzten Gebieten hatten OKH und OKW sich damit befasst, wie die sexuellen Aktivitäten der Soldaten zu kontrollieren seien, um vor allem die Verbreitung sexuell übertragbarer Krankheiten einzudämmen und die Disziplin der Truppe zu gewährleisten.[117] Wehrmacht und SS strebten