und trat an die Tür der Katzenmühle, wo der andere schon stand und die Stirn an den morschen Pfosten lehnte.
Stumm wies er in das Haus, sah den Sohn in die Stube der Mutter treten und ging, ohne sich umzusehen, allein weiter, zurück durch das enge Tal. Schnell eilte er auf der Landstraße durch Fliegenhausen und dann fast im Lauf nach Bumsdorf, dem Vaterhause zu.
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Früher beschrittene Wege, ist das nicht etwas, das zu dem Schönsten oder Schlimmsten im menschlichen Leben zu rechnen ist? Wo der Pfad führte, durch die Einöde oder die wimmelnden Gassen einer großen Stadt, über die stille Wiese, der grünen Hecke entlang oder durch den grünen Wald, es redet überall der Boden unter den Füßen und mahnt: Erinnere dich, erinnere dich!
Es gibt kaum etwas Wehmütigeres als schon einmal beschrittene Wege, selbst wenn sie zum Glücke führten; denn nichts lehrt so eindringlich als sie, in welchem Traume die Menschen wandeln.
Fortwährend ein Schall gleich dem Tritt eines Rosses im Ohr, fortwährend ein weißer Schein wie von einem weißen Pferde in der Dämmerung zur Seite, trotz der Gedanken an den sterbenden oder gestorbenen Vater! Wie hatte der Wanderer einst in das Gesicht der schönen Reiterin und Kranzwinderin geblickt und ewige Jugend und alle Heiterkeit und Herrlichkeit des Daseins da gefunden, wo sich die Falten des Alters, der Sorge, der tiefsten Lebensnot zusammenzogen! Was war noch übrig von alledem, was sich vor zwei kurzen Jahren mit dem schönen, lachenden Haupt in jener Mondscheinnacht aus dem Gebüsch, aus dem Boden der Heimat erhoben hatte?
»Dem Manne ein Schwert, dem Weibe das schwarze Brot der Frau Klaudine!« murmelte der Wanderer, dessen Pfad sich durch so viele Trümmer und Täuschungen wand.
Da war die Höhe, und wieder lagen die dunkeln Täler zu den Füßen Leonhard Hagebuchers; aber er trug jetzt nicht mehr eine Kornähre in der Hand.
»Krieg! Krieg!« rief er laut hinaus. »Krieg für alle, denn wir wollen ihn alle! Die Täler sollen sich regen und die Höhen von Waffen leuchten, und wer die Schlacht überlebt, dem soll’s erlaubt sein, sich zu wundern über den Sieg.«
Er horchte, als ob jetzt der Klang von tausend Trompeten die Nacht durchbrechen müsse, und als es nun doch stillblieb, dachte er von neuem an den alten wunderlichen Vater und wie er denselben so sehr geärgert und in seinen einfachsten und natürlichsten Erwartungen getäuscht habe. Dadurch wurde er wieder schneller vorwärts getrieben, bis der Brunnen, aus welchem er vor einem Jahre als ein ganzer Narr und ein halber Verliebter trank, an der Landstraße vor ihm rauschte. Damals war er, wie wir wissen, längere Zeit niedergesessen, um sich über die neu hervorbrechenden Quellen der Hoffnung, des Lebensmutes zu freuen; diesmal hielt er bloß einen flüchtigen Augenblick an, um wie in jener Sommernacht von dem klaren Strahl zu trinken. Als er sich aufrichtete, lächelte er doch wieder, trotz allem, was ihn bedrängte. Und so wandelte er fürder und gab in Gedanken seinem armen Freunde, dem träumenden Schneider Felix Täubrich, genannt Täubrich-Pascha, von allen Empfindungen, Gefühlen, Worten und Handlungen des heutigen Tages Bericht, bis er den ersten Bumsdorfer Hahn krähen hörte. Damit versanken alle Gestalten, die außerhalb des Vaterhauses in seinem Gesichtskreis sich bewegten, selbst die der Frau Klaudine und des Herrn van der Mook. Die Familie trat zum ersten Mal wieder ganz und gar in den Vordergrund, und naturgemäß musste jeder Streit und Kampf für und um die eigene Existenz oder die anderer aufhören; denn es lag ein Sterbender oder ein Toter in der Familie, und die Toten verstehen es, Stille zu gebieten. –
Der Hahn krähte, aber er bedachte sich, und indem er nach der Uhr zu sehen schien, schloss er den Schnabel, ehe er seinen Weckruf vollständig hervortrompetet hatte. In den warmen Ställen regten sich die Kühe, und ein Gaul schien unter einem schweren Traum zu leiden und wurde von einem erbosten schlaftrunkenen, fluchenden Knechte zur Ruhe verwiesen. Mitternacht war kaum vorüber, als der Wanderer am Ende der Dorfgasse das einzige Licht des Dorfes, das Licht in der Kammer seiner Eltern, zu Gesicht bekam, und im heftigsten Laufe erreichte er das Haus.
Der sonst so zierlich geglättete Kies in den Wegen des Gartens war von vielen Fußtritten zerstampft, ja sogar der Buchsbaum, welcher die Beete einfasste, der Stolz des Alten, war an mehreren Stellen niedergetreten. Die Haustüre stand offen, und schwer fiel dieses deutlichste Zeichen, dass der Herr des Hauses nicht mehr über dem Seinigen wache, dem Sohne auf das Herz.
Die Schlüssel lagen nicht mehr unter dem Kopfkissen des Steuerinspektors Hagebucher; eine in Schmerz und Schrecken zitternde Hand hatte sie unter dem sorglichen, sorgenvollen, ängstlichen Haupte hervorgezogen – das mächtigste Königreich kann auf die gleiche Weise zerfallen oder in die Gewalt eines anderen übergehen.
Auf dem Flur stieß Leonhard auf einen feuchten Mantel und einen Mann drin, auf den Reichsvikar des Hauses Hagebucher, den Vetter Wassertreter, der soeben einen Erfrischungslauf durch den Garten und das Dorf gemacht hatte, jetzt den Afrikaner mit einem leisen »Wer da?« empfing, ihn sodann in höchster Überraschung in die Arme schloss, um ihm das ewige, trostlose »Zu spät!« zuzuflüstern.
Wie die Frau Klaudine wusste auch er sich dieses plötzliche Erscheinen Leonhards nicht zu erklären; aber noch war die Zeit für solche Erklärungen nicht gekommen.
»Gegen neun Uhr ist er gestorben«, sagte er. »Herrgott, welch ein Trost, dass du da bist! O Leonhard, ich, ich habe ihn auf dem Gewissen, und wenn er auch einen schönen Tod hatte, so verzeihe ich es mir doch mein Leben lang nicht, ihm dazu verholfen zu haben. Willst du dich erst fassen, mein Junge, oder soll ich dir meine Beichte auf der Stelle ablegen?«
»Was macht die Mutter? Wo ist die Schwester?« fragte Leonhard, die eigentümliche Selbstanschuldigung des Wegebauinspektors wenig beachtend.
»Sie sind natürlich außer sich!« rief der Vetter Wassertreter. »Aber auch sie wird deine Ankunft unmenschlich trösten.«
Er öffnete dem Afrikaner die Tür der Wohnstube im untern Stockwerk des Hauses und führte ihn in dieses Gemach, worin vordem jener große Familienrat unter dem Vorsitz der Tante Schnödler gehalten wurde.
»Ich will das Kind rufen. Die Alte sitzt natürlich neben dem Alten und will nicht davon weichen. Wärme dich, wenn du es kannst, und mache dem armen kleinen Mädchen das rechte Gesicht, sie hat es nötig.«
Der Vetter zog leise die Tür hinter sich zu, und Leonhard stand in dem dunkeln Zimmer, in welchem noch ein letzter warmer Hauch des erkaltenden Ofens schwebte. Die Uhr, welche der Vater noch aufgezogen hatte, setzte ihren Weg durch die Zeit auch jetzt in ihrem Winkel fort; der