gedenken der Leutnant und ich in den nächsten Tagen vom Baum zu holen. Zweimal kroch ich im Laufe der letzten fünf Jahre auf allen vieren um die Katzenmühle und sah die alte Frau und sah auch die schöne Nikola, aber der Schakal zeigte das struppige Fell und den geifernden Rachen nicht, er heulte leise in der Ferne und verkroch sich, ehe man im Lager auf seine Gegenwart aufmerksam wurde.«
»Das haben Sie über sich gewonnen?« rief Leonhard, der bis jetzt stumm, unter den wechselndsten Empfindungen, zwischen Empörung und Mitleid schwankend, der wilden Selbstanklage zugehört hatte. »Wahrlich, das zeugt mehr für Sie als alles, was Sie sonst zu Ihrer Entschuldigung sagen könnten.«
»Ich sage es aber nicht zu meiner Entschuldigung!« rief Viktor Fehleysen. »Es war Feigheit und Trotz, nichts anderes. Ich fürchtete die alte Frau, ich schämte mich vor der einstigen Geliebten, und ich hielt es nicht der Mühe wert, die Auferstehung des Jünglings von Nain zu spielen und dadurch den Frieden jener Hütte zu zerstören.«
»Das ist eine Lüge, Herr von Fehleysen!« schrie jetzt Hagebucher zornig. »Spielen Sie nicht den Wahnsinnigen, nachdem Sie so lange in Wahrheit und Wirklichkeit dem Tollhause zu eigen waren. Wen wollen Sie täuschen, Sie, der sich den Kopf an so manchen Realitäten zerstieß? Um Ihrer Mutter willen sollen Sie sich nicht schlechter machen, als Sie sind, und da Sie jetzt von neuem heimkehrten, um die arge Verknotung so manches traurigen Geschickes zu lösen, so sollen Sie sich und uns diese Aufgabe nicht erschweren.«
»Zu welchem Zwecke haben Sie mich gerufen, Leutnant Kind?« fragte der Herr van der Mook.
»Um zu schlagen und zu töten!« sagte der Leutnant, und der andere wendete sich wieder an Hagebucher:
»Wenn Sie das eine Lösung nennen – benissimo! Zehn Jahre hindurch hat der Alte schätzbares Material zusammengetragen; fragen Sie ihn, ob er die Benützung desselben noch länger zu verschieben gedenkt.«
»Ich denke nicht«, sprach der Leutnant. »Ich habe die Papiere in schicklicher Ordnung und kann morgen damit in aller Form vor Fürstlichem Kriminalamt auftreten, um das Weitere zu veranlassen.«
»Was für Papiere?« rief Hagebucher in atemloser Spannung, und der Leutnant zog aus der Brusttasche eine rote, abgenutzte Feldwebelbrieftasche, rückte mit Bedacht die Lampe auf dem Tische zurecht und breitete daneben stumm aus, was er seine Dokumente nannte. Es waren meistens Quittungen und Gegenquittungen, Baurechnungen, Lieferungsverträge für den Haushalt der Prinzeß Marianne. Ein Teil dieser Papiere bestand in Kopien, die von ungeübter Hand angefertigt waren, ein Teil trug aber auch die eigenhändige Unterschrift des Freiherrn Friedrich von Glimmern, und schon das dritte Blatt wog so schwer in der Hand Leonhards, dass er es niederlegte und die Faust darauf:
»Der Fälscher, der Betrüger! O Nikola, Nikola! Um Gottes willen, Leutnant, wie sind Sie zu diesen entsetzlichen Zeugnissen und Beweisen der schamlosesten Felonie gelangt?«
»Durch Adrettité und konstantes, treuliches Aufmerken auf die Wege und Gänge des Herrn Barons. Es steckt manch ein guter, alter Kamerad aus der Kaserne in dem Dienste der Herrschaften, sei es als Verrechner oder Forstgehilfe, als Aufseher oder als Portier und sonstiger Diener. Da fliegt einem eine Feder vor der Nase auf, und man folgt ihr, und sie bringt zu Geheimnissen, die einem merkwürdig in die Augen stechen. Eine kuriose Welt! An einem Spinnenfaden ist nichts gelegen, aber dreht man derselben genug zusammen, so wird man einen tüchtigen Strick zu allerhand nutzbarem Gebrauch bekommen. Weshalb war der Exzellenz so viel drum zu tun, das bettelarme Fräulein von Einstein zu erfreien? Ist sie nicht immerdar der Liebling der Prinzeß Marianne gewesen, und hat nicht der Herr von Glimmern den ganzen Haushalt Ihrer Hoheit durch seine Hände laufen lassen? Eine recht kuriose Welt, Herr Hagebucher – ich habe das Rechnen gelernt, weil ich es in meiner früheren Charge als Feldwebel sehr nötig hatte, und ich habe gerechnet die ganzen letzten Jahre hindurch. Zuallererst fand ich einen kleinen Bruch, der nicht aufging, nun aber sind Tausende und Tausende draus geworden; da liegen die Rechnungen, und sie stimmen, soweit die Sache mein Lebensglück und das des Herrn Leutnant von Fehleysen anbetrifft. Was die andere Partie dagegen einzuwenden hat, das wollen wir morgen hören und danach das Buch meinetwegen und der Toten wegen zuklappen. Was der Herr Viktor dann tun wird, das weiß ich nicht; aber der Leutnant Kind, der wird in Geduld den letzten Zapfenstreich erwarten. Das Leben ist ein ekel Ding für einen Menschen, der nichts mehr vor der Hand hat, der das Alte abtat und nichts Neues mehr vornehmen kann.«
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Die drei Männer im feurigen Ofen hatten es gut; ihnen war kühl zumute, und sie sangen nur umso heller, je scheußlicher der grause König Nebukadnezar sich gegen sie stellte. Die drei Männer in der Stube des Leutnants Kind schwiegen, und es befand sich nur einer unter ihnen, der ganz genau wusste, was er zu tun hatte. Nach einer Pause nahm der Leutnant seine traurigen Dokumente zusammen, schob sie ohne Hast in die Tasche zurück und sagte:
»Also morgen, meine Herren.«
Jetzt aber fuhr Leonhard Hagebucher aus seiner Erstarrung auf:
»Morgen! Viktor, Viktor, hören Sie das? Wie kann das geschehen? Dürfen Sie Ihre Hand dazu bieten? Morgen, morgen! Denken Sie an Nikola! Besinnen Sie sich! Was wollen Sie tun?«
»Ich bin der Landflüchtige, Ehrenflüchtige; Sie aber sind der Freund der schönen Frau von Glimmern, sind der Freund meiner Mutter, Sie sollen mir raten, was ich tun soll. Dazu habe ich Sie an diesem Abend gerufen; dazu haben wir Sie jetzt in unsere kleinen Geheimnisse eingeweiht. Leonhard, Leonhard Hagebucher, es zerwühlt mir Magen und Hirn, die Wände drehen sich um mich her! O stehen Sie fest, stehen Sie ein für die arme Nikola. Wie soll sie gerettet werden vor den Toten? Wer kann sie retten vor der grimmigen Firma Kind und Kompanie?«
Der Sohn der Frau Klaudine warf sich von neuem auf das Bett und verbarg mit Gestöhn das Gesicht in den Kissen; Leonhard sah bedeutsam auf den Exleutnant der Strafkompanie; aber an diesem hatte sich während der letzten Minuten nichts geändert, und den Blick erwiderte er nur durch ein Achselzucken. Leonhard trat auf ihn zu und flüsterte, seine Hand erfassend:
»Nicht morgen! Gönnen Sie mir, sich selber, uns allen Zeit, Leutnant.«
»Das ist mir nicht kommod«, sprach der Alte. »Es ist auch nicht anständig, weder mir noch dem Herrn von Fehleysen.«
»Es soll aber so sein, Sie alter, harter Mann!« rief Hagebucher, mit dem Fuße aufstampfend. »Haben Sie zehn Jahre lang Ihre Rache verschieben können, so werden Sie jetzt nicht um einige Stunden des Aufschubs