Armen lehnte er an dem Tische, bis Lina mit einem Lichte in der Hand hereinschwankte und ihr bleiches, entsetztes, tränenüberströmtes Gesicht an der Brust des Bruders verbarg.
»Der Vater, der arme Vater, der Vater ist tot!« mehr vermochte sie nicht hervorzubringen; aber Leonhard Hagebucher hätte nun doch vielleicht manchen Regentag seines Lebens hingegeben, wenn er dafür in dieser Stunde nur einige solcher erfrischenden Tränen, wie das junge, zitternde, furchtsame Ding in seinen Armen weinte, hätte eintauschen können. Er hatte zu lange in der Fremde und in der Heimat unter den Wilden gelebt und hatte von manches Menschen Tode gehört oder gar ihn sterben sehen, um bei solcher Gelegenheit noch über das köstliche Nass verfügen zu können.
Dafür sprach er aber umso besser und verständlicher leise, schmeichelnde Trostesworte zu der kleinen Trostlosen und trug sie dann mehr, als dass er sie führte, die Treppe hinauf, zu der alten Frau.
»Ach, das ist ein so großes Grauen! Es ist mir so sehr fürchterlich, und ich schäme mich, denn ich habe ihn doch so liebgehabt und habe ihn so lieb –«
»Wo ist der Vetter, mein Herzchen?« fragte der Bruder.
»Auch dort drinnen bei der Mutter und – und dem Vater.«
»Ich schicke ihn dir heraus. Sei ruhig; wir müssen nun recht wacker zusammenhalten. Mein armes Kind, alles wird ja zu seiner Zeit zu einem Ding, welches anfängt: Es war einmal! Fasse dich, Lina, auch diese böse Nacht wird vergehen; es ist übrigens kein Unrecht, Respekt vor den Toten zu haben, sie fürchtet man nur dann nicht mehr, wenn man anfing, die Lebenden sehr zu fürchten.«
Mit zärtlicher Sorglichkeit setzte er nun die Schwester auf einen Stuhl, welcher vor der Kammer der Eltern stand, und den Leuchter zu ihren Füßen nieder, dann trat er ein in das Sterbegemach, winkte dem Vetter Wassertreter hinaus und fasste darauf sanft die alte Frau neben der Leiche in die Arme, und wenig lässt sich über dieses Wiedersehen, diese traurige Begrüßung sagen: der alte stumme Herr spielte eben die Hauptperson dabei, und der war schon zu Lebzeiten nicht auf viele und unnötige Worte eingerichtet.
Da lag er! Durchaus nicht gelber und verdrießlicher als in den heitersten und behaglichsten Momenten seines Daseins, aber jedenfalls ebenso gelb und verdrießlich.
»Er war so gut, so gut!« schluchzte die alte Dame. »Vierzig Jahre haben wir miteinander gehauset und Leid und Freude miteinander getragen. Es weiß niemand so als ich, wie gut er war, wenn man ihm seinen Willen tat. Nimmer hat er mir ein böses Wort gesagt, und nun liegt er da. Vorgestern noch beim Kaffee hat er alles eingerichtet, wo die Bohnen gepflanzt werden sollten und wo der Salat und die Erbsen, und es war ganz gegen meine Meinung, aber ich habe sie wieder einmal nicht durchgesetzt, und das ist mein einziger Trost in dieser Stunde. Tot, tot, ja, ihr habt gut sagen, es sei so; ich muss mich noch langehin besinnen, ob es wirklich wahr ist und ob es wirklich möglich sein kann. Vierzig Jahre, vierzig Jahre, und nun, als ob es alles nichts gewesen sei! Ich kann nicht dran glauben! O Leonhard, ich freue mich, dass du gekommen bist, aber helfen kannst du deiner alten Mutter auch nicht, der kann niemand helfen.«
»Was soll aus dem Hause und allem, was dazu gehört, werden, wenn du es und uns aufgeben willst, Mama?« fragte der Sohn mit rührender Listigkeit. »Es geht jetzt schon alles drunter und drüber, wie wird das erst morgen aussehen! Da ist denn doch noch ein Trost, dass der Vater den Jammer und die Verwahrlosung nicht mehr sehen wird, denn es würde ihn sehr ärgern. Solch ein akkurater Mann! Ich glaube sicher, Mama, du tätest ihm nun grade die rechte Liebe an, wenn du dich zusammennähmest und an seiner Stelle Ordnung hieltest und alles, was ihm am Herzen lag, nach seiner Weise versorgtest! Ich glaube, du musst dich jetzt in jeder Art schonen, dass du Kräfte behältst; du weißt, spaßen ließ er nicht mit sich, und dass er einmal eine ganz genaue Rechenschaft verlangt, das ist mir unzweifelhaft, wie ich ihn kenne.«
»Das wird er, mein Kind! Jaja, ich sehe es wohl ein, und ich will auch tun, was menschenmöglich ist; aber ich fürchte mich schon jetzt, an seine Schiebladen und Kasten und Rechenbücher zu rühren; er war so sehr eigen.«
»Wer sollte es aber sonst ihm zu Dank machen? O Mama, jetzt bringe ich dich zu der armen Lina, und du musst mit ihr zu Bett gehen. Er passt uns ganz sicher auch von da oben auf die Finger, und die Verwandtschaft wird ebenfalls mit dem frühesten kommen, ihm die letzten Ehren anzutun, und nichts ist vorgerichtet. O Mama, was soll daraus werden, wenn du uns und ihm nicht bei Kräften bleibst?«
Dieses war die rechte Art, zu trösten und zu kräftigen, sie führte also auch besser zum Zweck als hundert weinerliche Sentimentalitäten. Es gelang, die alte Frau aus der schwülen Kammer zu entfernen und sie unter Beihilfe des Wegebauinspektors der Schwester zu übergeben. Nachdem dieses geschehen war, öffnete Leonhard Hagebucher mit einem tiefen Seufzer die Fenster und ließ die winterliche Luft hinein in das dumpfige Sterbegemach. Nun krähten die Hähne von neuem, aber dieses Mal mit vollem Rechte, es war Morgen geworden. Der Vetter Wassertreter trat wieder ein und sagte:
»Gottlob, endlich haben sie Vernunft angenommen und sind ins Bett gekrochen, beide in ein Bett und in den vollen Kleidern. Nun werden sie sich in den Schlaf weinen, aber derselbe soll ihnen nichtsdestoweniger ebenso gesegnet sein wie uns dieser frische Nordwind. Ah, welche Wohltat!«
Die beiden Männer standen jetzt wieder neben dem Toten und betrachteten ihn schweigend.
In tiefem Grame dachte Leonhard daran, mit welchem Glanze er so oft während seiner Gefangenschaft dieses Haupt umkleidet gesehen hatte und wie nun nicht eine seiner würdigen und schönen Fantasien zur Wirklichkeit geworden sei. Er grübelte aber, zu seiner Ehre sei’s gesagt, nicht seiner selbst wegen darüber nach; ein unendliches Mitleid mit dem alten Mann, der aus so tausenderlei kleinen und nichtigen Kümmernissen und Sorgen sein Leben spann, beherrschte ihn ganz und gar und regierte alle seine Gedanken. Er quälte sich bitter damit, Selbstvorwürfe aus allen Winkeln seiner Brust zusammenzuscharren; aber wie er sich auch anstellte, der Alte tat’s nicht, auf keine Weise passte er als weißlockiger Patriarch auf die Bank unter den Lindenbaum, um weise Lehren und würdige Lebenserfahrungen einem ehrfurchtsvollen, lauschenden Kreise mitzuteilen.
»Lass es gut sein, Leonhard«, sagte endlich der Vetter, »wir wollen nicht bloß den Frauen gute Lehren geben, wir wollen selber uns danach halten.«
»Jaja«, sprach Leonhard traurig, »das werden wir wohl müssen. Jetzt aber –«
»Jetzt willst du meine Beichte und wünschest zu erfahren, wie das Unglück seinen Weg ins Haus fand. Leider kann ich immer nur wiederholen, dass ich einzig und allein die Schuld trage und mir grad, weil alles in der besten Absicht geschah,