ihm vollständig gewachsen seid, und handelt nicht wie ein boshafter Schulknabe, sondern wie ein Mann, welcher sich seiner Pflicht nach allen Seiten hin bewusst ist. Ihr werdet diese vernichtende Anklage gegen den Herrn von Glimmern morgen noch nicht erheben; morgen gehen wir zu der Frau Klaudine, auch sie hat teil an jenem Manne, und Ihr müsst ihr Wort hören.«
»Sie wird mich zurückhalten wollen«, murmelte der Leutnant. »Ich habe sie in der letzten Krankheit meiner Tochter kennengelernt, sie ist zu gut und lebt nicht in der richtigen Welt. Ich kann es nicht prästieren, dass ich mir von ihr die Hände binden lasse, und sie wird’s versuchen.«
»Das soll und wird sie nicht, dafür verpfände ich Ihnen mein Wort, Leutnant Kind. Es ist niemand berechtigt, den Verbrecher seiner Strafe zu entziehen. Reden Sie doch, Viktor Fehleysen, nicht wahr, wir gehen morgen zu Ihrer Mutter?«
Der Tierhändler nickte tief seufzend; der Leutnant Kind aber schritt einige Male durch das Zimmer und blieb dann dicht vor Leonhard Hagebucher stehen:
»Ich habe lange genug gewartet, Herr; aber Sie gefallen mir, und so mag’s drum sein, Sie sollen Ihren Willen haben. Ich hörte von Ihrer Historie und Gefangenschaft, und das hat mir wohl gefallen. Sie sind ein Mann geblieben in harter Drangsal und allem Malheur; deshalb will ich Ihnen auch jetzt trauen; ich bin kein Unmensch und kein Untier. Sie haben mir eben in kurzen Worten viel Wahres gesagt; reisen Sie also morgen mit dem Herrn Viktor zu der guten Frau in der Mühle und sorgen Sie gut für die arme Frau Nikola; aber behalten Sie mich stetig im Gedächtnis, ich bin ein alter Mann und will keine fremden Hände über meine eigensten Geschäfte kommen lassen.«
»Ich danke Ihnen, Leutnant!« sprach Leonhard und wendete sich jetzt von neuem zu dem Sohne der Frau Klaudine; denn auch da war noch manches gute und manches harte Wort zur Bändigung und Bestimmung der wilden Seele nötig; aber es gelang auch hier dem Afrikaner, seinen Willen durchzusetzen. Gegen Mitternacht hätte er Sieg rufen können, wenn das eine Gelegenheit, Sieg zu rufen, gewesen wäre; so nahm er nur betäubt und erschöpft Abschied und ging still seinen einsamen Weg nach Hause. Er blieb aber nicht still; die winterliche Nachtluft tat ihm gut, er gewann bald seine Stimmung wieder, und es war eine eigentümliche Stimmung.
Tragische Dinge hatte er vernommen, tragische Verhältnisse kennengelernt, allein er fühlte sich nicht niedergedrückt in seinem tapfern Herzen, und nachdem die physische Erschöpfung und Betäubung etwas überwunden war, schlug er sogar ganz heiter an seine Brust und sagte:
»Brav, Hagebucher!«
Und er hatte recht. Den beiden Gesellen gegenüber, welche er soeben verließ, durfte er es sich wohl aussprechen, dass er trotz allem doch ein ordentlicher Kerl geblieben sei, der sich seines Daseins weder zu schämen noch dasselbe für abgeschlossen zu halten habe. Weder der Zorn noch das Mitleid trübten ihm so sehr den Blick, dass er darüber in Gefahr kam, die Tramontana aus den Augen zu verlieren. Er konnte sich das Zeugnis ausstellen, dass er in der Stube des Leutnants Kind merkwürdig gelassen geblieben sei, und vor dem stattlichen Hause Seiner Exzellenz des Freiherrn Friedrich von Glimmern gab er sich das Wort, auch in der Katzenmühle ruhig zu bleiben.
Er stand einige Augenblicke still vor der Wohnung Nikolas und blickte empor zu den dunkeln Fenstern, indem er an das schwarze Brot auf dem Tische der Frau Klaudine dachte. Das gab ihm eine weitere Beruhigung, und er murmelte:
»Lass sie essen und genesen!«
Endlich erreichte er seine Wohnung und fand den Pascha zwar im Bett, aber wach über seinen schönsten Träumen, mit einer langen Pfeife im Munde und eingehüllt in Wolken des perfidesten Lausewenzels. Er winkte ihm, sich nicht zu rühren, setzte sich auf den Rand seines Bettes, betrachtete ihn zärtlich und sagte:
»O Täubrich, wenn Sie wüssten, wie angenehm Sie anzuschauen sind und wie kalt und widerlich unheimlich es da draußen in der Dunkelheit ist! Es geht ein kalter Wind in den Gassen, und Fratzen und Gespenster aller Art haben die Oberhand; aber bei allen Palmen im Aufgange, Täubrich, wir beide haben doch den wahren Weltverstand erobert, und es soll diesem alten Europa nicht leicht werden, ihn uns aus der Tasche zu spielen. Bleiben Sie ruhig liegen, es tut meinen Augen gut, Sie zu betrachten.«
»Das war ja ein grässlicher Kerl!« seufzte der Schneider. »Ich sehe ihn noch immer dort auf dem Stuhle. Ach, Sidi, ich dachte es mir wohl, dass er Sie zu bösen Orten führen würde. Können Sie mir nicht sagen, was er von Ihnen wollte?«
»Jetzt nicht, Täubrich – morgen, ein andermal. Ich werde nun auch ins Bett kriechen – rühren Sie sich nicht, Täubrich; denn der Spuk lauert vor der Tür. Gute Nacht, ich verreise morgen auf einige Tage.«
Der Mann aus dem Tumurkielande träumte in dieser Nacht nicht von dem Herrn Polizeidirektor Betzendorff, er träumte überhaupt nicht von einer ihn selber betreffenden Sache. Am folgenden Morgen packte er einige Notwendigkeiten in einen Reisesack und schickte den Pascha mit einer kurzen schriftlichen Notiz über sein Verschwinden zum Professor Reihenschlager.
Der Professor empfing, öffnete und las das Billet, schüttelte den Kopf und meinte, solch ein polizeiliches Eingreifen in ein wissenschaftlich-humanes Unternehmen sei zwar nicht hübsch, sondern sogar sehr ärgerlich und durchaus nicht geeignet, den ruhigen Staatsangehörigen mit allen bestehenden Verhältnissen im Einklange zu erhalten; aber freiwilliges Exil trage es im Grunde doch nicht für den Betroffenen aus. Er erbat sich die Meinung der Tochter darüber, und Fräulein Serena Reihenschlager behauptete, sie halte es nicht der Mühe wert, eine eigene Meinung darüber zu haben, mit Vergnügen füge sie sich in die des Papas.
Leonhard Hagebucher befand sich mit dem Herrn Kornelius van der Mook auf dem Wege zur Katzenmühle. –
Zu den Müttern! Es war in der Seele beider Männer etwas von jenem Grauen Fausts, als er zu jenen anderen Müttern, den geheimnisvollen Schlüssel in der Hand tragend, niederstieg. Der Tag war dunkel und stürmisch, das war gut; denn weder Leonhard noch Viktor Fehleysen hätten mit der holdseligsten Witterung etwas anzufangen gewusst. Sie fuhren desselben Weges, auf welchem Viktor einst mit der Frau Klaudine vor dem Schicksal des väterlichen Hauses floh. Erst die Post mit ihrem wüsten, zähneklappernden Getümmel, dann die Landstraße durch Wald und Feld und verregnete, schmutzige Dörfer!… Knielahme Gäule, verdrossene Kutscher, mürrische Schlagbaumwächter, die den niederträchtigsten Weg teuer bezahlt haben wollten! Wald und Feld – bergauf, bergab; welch ein Tag und welch ein Pfad, um zu dem schönen Wunder in der Einsamkeit, um zu der Frau Klaudine zu gelangen!
Der