Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke


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jetzt sei­ne vor­ste­hen­de Un­ter­lip­pe noch wei­ter vor­schiebt, mich streng an­schaut und erst zö­gernd sagt: »Ja, ja, na­tür­lich.« Dann rasch: »Ich muss Sie we­gen Mord­ver­suchs an Ih­rer Frau ver­haf­ten, Herr Som­mer. Sie sind ver­haf­tet!«

      Ich ste­he wie vom Don­ner ge­rührt, ich kann im ers­ten Au­gen­blick kein Wort über die Lip­pen brin­gen. ›Dies kann kein Ernst sein‹, den­ke ich fie­ber­haft. ›Sie wol­len dich nur schre­cken. Mord­ver­such an Mag­da …?‹ End­lich kann ich spre­chen, ich sage mit zit­tern­der Stim­me: »Mord­ver­such an mei­ner Frau, das ist doch lä­cher­lich! Ich habe Mag­da doch nie er­mor­den wol­len!«

      Der Herr Staats­an­walt sieht mich ver­nich­tend an und stößt scharf her­vor: »Wir wer­den Ih­nen schon bei­brin­gen, wie lä­cher­lich das ist, Som­mer!« Und: »Kom­men Sie, Herr Dok­tor!« Noch ein­mal zu dem städ­ti­schen Wacht­meis­ter: »Sie wis­sen also Be­scheid, Wacht­meis­ter. Füh­ren Sie den Mann ab!«

      »Herr Dr. Mans­feld!«, rufe ich auf­ge­regt, maß­los ver­zwei­felt hin­ter den Fort­ge­hen­den drein. »Herr Dr. Mans­feld, Sie wis­sen doch, wie sehr ich Mag­da ge­liebt …«

      Die Tür schlägt hin­ter den bei­den Zi­vi­lis­ten zu, ich bin mit den bei­den Uni­for­mier­ten al­lein. Fas­sungs­los hocke ich mich auf mei­nen Stroh­sack und ver­ber­ge das Ge­sicht in den Hän­den.

      27

      Nach­dem ich eine Wei­le be­we­gungs­los so da­ge­s­es­sen hat­te und im­mer wie­der die ge­gen mich er­ho­be­ne An­kla­ge »Mord­ver­such an der ei­ge­nen Frau« qual­voll hin und her ge­wälzt hat­te, leg­te der Wacht­meis­ter aus mei­ner Va­ter­stadt, Herr Schul­ze, sei­ne Hand auf mei­ne Schul­ter und sag­te, mil­de mah­nend: »Wir müs­sen jetzt ge­hen, Som­mer!«

      »Som­mer«, wie mich das an­rühr­te, die­ses ein­fa­che »Som­mer« ohne »Herr«; so von ei­nem ganz ein­fa­chen Mann mit ei­nem Jah­res­ein­kom­men von kaum mehr als zwei­tau­send­vier­hun­dert Mark an­ge­re­det zu wer­den, das mach­te mir die Ver­än­de­rung mei­ner Le­ben­sum­stän­de aufs Deut­lichs­te be­greif­lich. Seit ich aus der Leh­re ent­las­sen wor­den war, hat­te mich noch kein Mensch ohne »Herr« an­ge­re­det, und nun … Ich nahm die Hän­de vom Ge­sicht und frag­te, mit Trä­nen in den Au­gen: »Wo­hin brin­gen Sie mich, Herr Schul­ze?«

      Ich be­ton­te das »Herr«, aber er ach­te­te nicht dar­auf, solch ein­fa­cher Mann hat­te für so fei­ne Schat­tie­run­gen wohl kein Ge­fühl. »Nur zum Amts­ge­richt, Som­mer«, sag­te er. »Nur zum Amts­ge­richt.« Und er fuhr fort: »Se­hen Sie, Som­mer, Sie sind doch ein ge­bil­de­ter Mann, Sie wer­den mir doch kei­ne Schwie­rig­kei­ten ma­chen? Ich müss­te Sie wohl ei­gent­lich an die Ket­te neh­men, aber wenn Sie mir ver­spre­chen, kei­ne Schwie­rig­kei­ten zu ma­chen …«

      »Ich ver­spre­che es Ih­nen, Herr Schul­ze«, sag­te ich eif­rig und jetzt fast fröh­lich. »Ich ver­spre­che es Ih­nen auf Ehre und Ge­wis­sen.«

      »Schön«, ant­wor­te­te er. »Ich will mich auf Sie ver­las­sen. Zie­hen Sie Ihren Man­tel an, da liegt noch Ihr Hut, sonst ha­ben Sie nichts? Also kom­men Sie!«

      Er ging mit mir aus der Zel­le, wir stie­gen eine Trep­pe hin­un­ter und stan­den auf der Dorf­stra­ße. Ich war erst ein paar Stun­den in dem halb­dunklen Ge­fäng­nis ge­we­sen, und doch über­wäl­tig­ten mich schon Wei­te und Hel­le rings­um. Mein Herz klopf­te schnel­ler bei die­sem Gruß der Frei­heit.

      ›Wenn du jetz­t‹, dach­te ich schnell, ›über den Zaun dort sprin­gen und durch den bu­schi­gen Gar­ten lau­fen wür­dest, über die Wie­sen in den Wald hin­ein – ob Schul­ze sich wohl sehr viel Mühe ge­ben wür­de, dich wie­der ein­zu­fan­gen? Ob er gar hin­ter dir her­schie­ßen wür­de wie hin­ter ei­nem rich­ti­gen Ver­bre­cher? Ach nein‹, dach­te ich mit ei­nem schwa­chen Lä­cheln, ›das wür­de er nie tun. Wir ha­ben doch öf­ter Skat mit­ein­an­der ge­spielt, und er weiß, wer ich bin und was ich vor­stel­le. Aber ich will ihm ja gar nicht weg­lau­fen‹, dach­te ich schnell. ›Ich habe ihm ver­spro­chen, kei­ne Schwie­rig­kei­ten zu ma­chen, und ich bin ein Mann von Wort. Aber et­was an­de­res will ich von ihm …‹ Als Schul­ze vor­hin da­von ge­spro­chen hat­te, dass er mich zum Amts­ge­richt brin­gen müss­te, war die­se Mög­lich­keit hoff­nungs­voll vor mir auf­ge­taucht. »Herr Schul­ze«, sag­te ich sehr höf­lich, »ich habe eine Bit­te an Sie …«

      »Nun, was ist denn noch, Som­mer?«, frag­te er. »Gehe ich zu schnell? Wir kön­nen ru­hig auch lang­sa­mer ge­hen, der Zug fährt erst in zwan­zig Mi­nu­ten.«

      »Se­hen Sie, Herr Schul­ze«, fing ich an. »Ich habe so furcht­ba­re Zahn­schmer­zen, und da drü­ben sehe ich ge­ra­de einen Gast­hof. Darf ich nicht schnell ein­mal hin­ein­ge­hen und einen Ko­gnak oder Rum trin­ken? Das hilft mir so­fort ge­gen die Zahn­schmer­zen. Sie kön­nen«, fuhr ich schnell fort, »ru­hig ne­ben mir an der The­ke ste­hen, wenn Sie Angst ha­ben, ich lau­fe Ih­nen fort. Ich lau­fe Ih­nen be­stimmt nicht fort, es ist nur we­gen mei­ner gräss­li­chen Zahn­schmer­zen.«

      »Das schla­gen Sie sich nur ru­hig aus dem Kopf!«, sag­te der Wacht­meis­ter be­stimmt. »Da müss­te ich ja wohl mei­nen Rock aus­zie­hen, wenn be­kannt wür­de, ich habe mit ei­nem Ge­fan­ge­nen Schnaps an der The­ke ge­trun­ken. Daraus wird nichts, Som­mer.«

      »Aber es kennt mich hier doch kein Mensch, Herr Schul­ze«, rief ich bit­tend. »Es kommt be­stimmt nie her­aus!«

      »Da!«, rief der Wacht­meis­ter und leg­te grü­ßend die Hand an den Tscha­ko. Das Auto des Arz­tes, in dem ne­ben Dr. Mans­feld der Staats­an­walt saß, war an uns vor­über­ge­fah­ren. »Wenn die bei­den uns hät­ten in den Gast­hof rein­ge­hen se­hen, ich wäre schon ›drin‹ ge­we­sen! Also, kom­men Sie jetzt wei­ter, Som­mer.«

      »Herr Schul­ze«, sag­te ich fle­hend und ging kei­nen Schritt von die­sem Platz am Gast­hof, mei­ner letz­ten Chan­ce. »Nun ist aber wirk­lich kein Ein­zi­ger mehr hier, der mich kennt. Tun Sie mir doch den Ge­fal­len! Nur ein ein­zi­ger Schnaps! Ich will mei­ner Frau auch sa­gen, sie soll Ih­nen hun­dert Mark …«

      »Nun wird es mir aber doch zu bunt!«, schrie der Wacht­meis­ter und war rot vor Zorn. »Sind Sie denn ganz ver­rückt ge­wor­den, Som­mer? Das ist ja eine Be­am­ten­be­ste­chung, die Sie da ver­sucht ha­ben! Das müss­te ich ja ei­gent­lich auf der Stel­le an­zei­gen! So­fort kom­men Sie jetzt mit, oder ich neh­me Sie an die Ket­te!«

      Völ­lig ver­schüch­tert, gänz­lich nie­der­ge­schmet­tert, der letz­ten Hoff­nung be­raubt, folg­te ich dem auf­ge­brach­ten Herrn Schul­ze. Eine Wei­le gin­gen wir schwei­gend ne­ben­ein­an­der­her, er är­ger­lich vor sich hin mur­melnd, ich mit ge­senk­tem Kopf und schlep­pen­den Glie­dern.

      Dann sag­te der Wacht­meis­ter ru­hi­ger: »Ich ver­ste­he Sie nicht, Som­mer. Sie wa­ren sonst doch ein ganz or­dent­li­cher, so­li­der Mann, und nun ma­chen Sie sol­che Zi­cken! Ha­ben Sie denn noch im­mer nicht ge­nug von der ol­len Sau­fe­rei? Hat Sie die nicht schon weit ge­nug ins Un­glück ge­stürzt? Je­den­falls will ich Ihre Lage nicht noch schlim­mer ma­chen, als sie schon ist. Ich habe nichts ge­hört. Aber nun sei­en Sie auch ein Kerl, Som­mer, und rei­ßen Sie sich zu­sam­men. In ein paar Ta­gen sind Sie aus dem Kel­ler raus und ha­ben wie­der einen kla­ren Kopf, und dass Sie den ge­wal­tig brau­chen wer­den, das müss­ten Sie nach den Wor­ten des Herrn Staats­an­wal­tes doch ei­gent­lich wis­sen!«

      Ich hör­te