dann merkt keiner was, sondern jeder denkt, wir sind gute Bekannte und haben uns ganz zufällig getroffen. Wir sind ja wohl auch schon daheim nach dem Skat miteinander die Breite Straße ein Stück lang gemeinsam gegangen, und Sie und keiner ist auf den Gedanken gekommen, dass wir etwas anderes als Bekannte wären …«
Damit hatte er recht. Und da ich nun den Schreck über den abgeschlagenen Schnaps einigermaßen überwunden hatte, kam wirklich eine ganz vernünftige Unterhaltung zustande, erst über die eben einsetzende Heuernte, dann über die allgemeinen Ernteaussichten. Schulze und ich, wir waren beide der Ansicht, dass es im Allgemeinen nicht schlecht aussähe, jetzt aber müsse Regen kommen, das Frühjahr sei zu trocken gewesen, und besonders die Sommerung,1 aber auch die Hackfrüchte brauchten nötigst Feuchtigkeit.
Die kurze Bahnfahrt verging mir so schnell genug, und von den im Abteil Mitreisenden ist wohl keiner auf den Gedanken gekommen, dass hier ein des Mordversuches Verdächtiger abgeführt wurde. (Manchmal wollte ich mir als so schwerer Verbrecher wahrhaft glorios verrucht vorkommen.) Als wir dann aber auf dem heimatlichen Bahnhof ankamen und uns durch viele Wartende hindurchzwängten, in die Bahnhofshalle kamen, und auf den Platz vor dem Bahnhof, da wurde mir wieder ganz bänglich zumute. Denn jeden Augenblick konnte ich jetzt einem nächsten Bekannten, ja meinen eigenen Angestellten, ja meiner eigenen Frau begegnen.
Ich zog den Wachtmeister am Ärmel und bat ihn: »Herr Schulze, können wir nicht ein bisschen hintenrum und durch die Anlagen gehen? Ich kenne hier so viele Menschen, und es wäre mir wirklich peinlich …«
Herr Schulze nickte mit dem Kopf. »Mir soll es recht sein. Es ist ja schließlich egal, ob Sie eine Viertelstunde früher oder später im Amtsgericht ankommen. Aber jetzt möchte ich mich erst ein bisschen leichter machen …«
Und damit ging Herr Schulze mit mir schräg über den Bahnhofsplatz auf jenes Gebäude zu, das ich, von der anderen Richtung kommend, gute vierundzwanzig Stunden zuvor mit Polakowski aufgesucht hatte. Es war ein seltsames Gefühl, wieder in diesem Raum mit seinen sechs Becken zu stehen, das Wasser rauschen zu hören und den schmutzig-nassen Steinboden anzusehen. Hier hatte ich mich im Kampf mit Polakowski gewälzt – so kurze Zeit war es erst her, und doch schien es schon ganz unglaubhaft. Wie ein wilder Traum, der, solange man ihn träumte, völlig überzeugte, und der schon direkt nach dem Erwachen lächerlich grotesk anmutete. Aber ich hatte hier mit Polakowski gekämpft, es war kein Traum gewesen, und diesem abgefeimten Schurken gegenüber banden mich weder Rücksicht noch Wort.
Als wir darum wieder aus der Anstalt hinaustraten und schön sachte um die Stadt herum unter Vermeidung aller belebteren Straßen weitergingen, fasste ich mir ein Herz und erzählte dem Wachtmeister Schulze schön der Reihe nach alles, was ich mit Polakowski erlebt hatte, von meinem ersten Auftauchen nach meiner Flucht aus dem Arztauto in der von Wrasen2 erfüllten Waschküche an bis zu meinem Kampf um Koffer und Geld in der Toilette. Der Wachtmeister Schulze hatte in seinem Beruf wohl manches von menschlichen Leidenschaften und Verirrungen erlebt, um noch viel über so etwas zu erstaunen, bei meiner Erzählung blieb er aber doch einige Male fast erregt stehen, sagte mehrfach lebhaft: »Donnerwetter, es ist nicht zu glauben.« – »Was Sie nicht sagen! Ist das wirklich wahr, Sommer?«, pfiff auch durch die Zähne.
Als ich dann geendet hatte und auf einen Empörungsausbruch über den Schurken Polakowski wartete, schwieg der Wachtmeister Schulze eine ganze Weile, und dann meinte er bedächtig, mich groß ansehend: »Ich kenne Sie ja eigentlich bloß vom Skat her, das heißt, ich kenne Sie gar nicht, aber ich habe Sie immer doch für einen vernünftigen und überlegten Geschäftsmann gehalten. Dass Sie – entschuldigen Sie, aber es ist die Wahrheit – ein so bodenloses Rindvieh sind, Sommer, das habe ich mir freilich nicht einmal im Traum eingebildet. Sie mögen es drehen und wenden, wie Sie wollen, es ist nicht nur der Suff gewesen, mit dem Suff allein können Sie so viel Doofheit nicht entschuldigen. Vom ersten Tage an haben Sie sehen müssen, was für ein Gauner der Kerl war, haben’s auch gesehen und sind doch nicht fortgegangen, wo man Sie in jedem kleinen Gasthof so viel hätte saufen lassen, wie Sie nur wollten. Nein, es ist Ihnen ganz recht geschehen, dass der Kerl Sie ausgenommen hat. Sie haben’s nicht besser verdient, und ich wollte nur, er hätte Ihnen auch noch die letzten tausend Mark abgenommen, da hätten Sie den Unfug in dem Gasthof nicht auch noch anstellen können …«
Der Wachtmeister holte Atem und sah mich strafend an, ich aber war über diese ganz unerwartete Wirkung meines Berichtes aufs Äußerste empört und sagte böse: »Darum habe ich Ihnen wirklich nicht die ganze Geschichte erzählt, damit Sie mir hier eine Moralpauke halten, Wachtmeister Schulze …«
»Herr Wachtmeister Schulze, bitte, Sommer!« verbesserte Schulze streng.
»Sondern ich dachte«, fuhr ich wütend fort, »dass Sie sich sofort Mühe geben würden, diesen Lumpen von Polakowski zu fangen …«
»So ist es richtig«, lachte der Wachtmeister spöttisch. »Erst stecken Sie in Ihrer Dummheit und Besoffenheit einem Verbrecher Ihr Hab und Gut direkt in die Hand, und dann schreien Sie nach der Polizei und verlangen, dass wir noch ach und weh schreien und Hals über Kopf hinter Ihren sieben Zwetschgen dreinlaufen sollen! Ich kann’s Ihnen nur noch einmal sagen: Sie haben es nicht besser verdient, und wenn Ihre arme Frau nicht wäre, die ja allein die Last Ihrer Dummheiten tragen muss, ich risse mir wirklich kein Bein um die Sache aus. Um Ihrer Frau willen, Sommer, wohlgemerkt, um Ihrer Frau willen werde ich aber, sobald ich Sie erst nach Nummer Sicher gebracht habe, dem Leutnant gleich Bericht machen, und es ist ja möglich, dass dieser Vogel noch nicht über alle Berge ist – so bald erwartet er uns vielleicht noch nicht.
Nun aber kommen Sie ein bisschen schnell, ich möchte Sie jetzt gerne bald abgeliefert haben, sonst machen Sie noch eine frische Dummheit. Von Ihnen kann man ja einfach alles erwarten. Du lieber Himmel! Nie in meinem Leben werde ich wieder auf eine solche Fassade reinfallen, wunder habe ich gedacht, was Sie für ein tüchtiger Kerl sind, aber wahrscheinlich hat alles die Frau gemacht. Wie soll die Ihnen je den Mist, den Sie da angerichtet haben, verzeihen!«
Damit gingen wir los und redeten auch kein einziges Wort mehr bis zum Amtsgericht; Schulze war wohl schon innerlich mit dem Bericht an den Leutnant beschäftigt, ich aber war wirklich tief gekränkt über all die Ungerechtigkeiten, die mir dieser subalterne Beamte ganz frech ins Gesicht gesagt hatte. Wenn der Mann nicht einsah, dass ich einfach krank gewesen war, als hilfloser Kranker einem Schurken ausgeliefert, so war ihm nicht zu helfen, dann war er der Dumme. Ich jedenfalls war es bestimmt nicht. Ich war nur krank gewesen, war es noch immer …
1 Sommergetreide