dem Wunsche erfüllt, möglichst bald einzuschlafen, denn er ist sehr müde. Aber er ist wohl übermüdet, wie man auch überhungert sein kann. Der Schlaf will nicht zu ihm kommen. Ein langer Tag mit endlos viel Ereignissen, ein Tag, wie es ihn eigentlich noch nie in Ottos Leben gegeben hat, liegt hinter ihm.
Aber kein Tag, wie er ihn sich wünscht. Ganz abgesehen davon, dass eigentlich alle Geschehnisse unangenehm waren, bis auf die Ablösung von seinem Posten in der Arbeitsfront, er hasst diese Unruhe, dieses Redenmüssen mit allen möglichen Menschen, die er allesamt nicht ausstehen kann. Und er denkt an den Feldpostbrief mit der Nachricht vom Tode Ottochens, den ihm die Frau Kluge gegeben, er denkt an den Spitzel Barkhausen, der ihn so täppisch hat reinlegen wollen, an den Gang in der Uniformfabrik mit den im Zuge flatternden Plakaten, gegen die Trudel ihren Kopf lehnte. Er denkt an den verkappten Tischler Dollfuß, diesen ewigen Zigarettenraucher, die Medaillen und Orden klingeln wieder auf der Brust des braunen Redners, nun fasst ihn aus dem Dunkel die feste, kleine Hand des Kammergerichtsrats a.D. Fromm an und schiebt ihn der Treppe zu. Da steht der junge Persicke mit seinen spiegelnden Stiefeln auf der Wäsche und wird immer käsiger, und in der Ecke röcheln und stöhnen die beiden blutigen Besoffenen.
Er fährt wieder hoch, beinahe wäre er eben wirklich eingeschlafen. Aber da ist noch etwas, das ihn an diesem Tage stört, etwas, das er genau gehört und wieder vergessen hat. Er setzt sich auf seinem Sofa hoch und lauscht lange und sorgfältig. Es ist richtig, er hat sich nicht verhört. Befehlend ruft er: »Anna!«
Sie antwortet klagend, wie es gar nicht ihre Art ist: »Was störst du mich schon wieder, Otto? Soll ich denn gar nicht zur Ruhe kommen? Ich habe dir doch gesagt, ich will nicht mehr reden!«
Er fährt fort: »Warum soll ich denn auf dem Sofa schlafen, wenn die Trudel bei dir im Bette liegt? Dann ist mein Bett doch frei?«
Einen Augenblick herrscht drüben tiefe Stille, dann sagt die Frau fast flehend: »Aber Vater, die Trudel schläft wirklich in deinem Bett! Ich liege allein, ich habe auch solche Gliederschmerzen …«
Er unterbricht sie: »Du sollst mich nicht belügen, Anna. Drüben bei euch atmen drei, ich hab’s gut gehört. Wer schläft in meinem Bett?«
Stille, lange Stille. Dann sagt die Frau fest: »Frag nicht so viel. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Schweig lieber stille, Otto!«
Und er unbeugsam: »In dieser Wohnung bin ich der Herr. In dieser Wohnung gibt’s keine Geheimnisse vor mir. Weil ich alles zu verantworten habe, darum. Wer schläft in meinem Bett?«
Lange Stille, lange. Dann sagt eine alte, tiefe Frauenstimme: »Ich, Herr Quangel, die Frau Rosenthal. Und Ihre Frau und Sie sollen keine Schwierigkeiten durch mich haben, ich ziehe mich an. Gleich gehe ich wieder rauf!«
»Sie können jetzt nicht in Ihre Wohnung, Frau Rosenthal. Die Persickes sind oben und noch ein paar Kerls. Bleiben Sie jetzt liegen in meinem Bett. Und morgen früh, ganz zeitig, um sechs oder sieben, gehen Sie runter zum alten Rat Fromm und klingeln an seiner Tür im Hochparterre. Der wird Ihnen helfen, er hat’s mir gesagt.«
»Ich danke Ihnen auch schön, Herr Quangel.«
»Sie können dem Rat danken, mir nicht. Ich setz Sie bloß aus meiner Wohnung. So, und nun kommst du dran, Trudel …«
»Ich soll wohl auch raus, Vater?«
»Ja, du musst. Das war dein letzter Besuch bei uns, und du weißt auch, warum. Vielleicht, dass Anna dich manchmal besucht, aber ich glaub’s nicht. Wenn sie erst zur Vernunft gekommen ist und ich richtig mit ihr geredet habe …«
Fast schreiend sagt die Frau: »Das lass ich mir nicht gefallen, dann geh ich auch. Dann kannst du allein bleiben in deiner Wohnung! Du denkst nur an deine Ruhe …«
»Richtig!«, unterbricht er sie scharf. »Ich will nichts Unsicheres haben, und vor allem will ich nicht in die unsicheren Geschichten von anderen reingezogen werden. Wenn ich den Kopf hinhalten muss, will ich ihn nicht wegen irgendwelcher Dusseleien von anderen hinhalten, sondern weil ich was getan habe, was ich tun wollte. Ich sage nicht, dass ich was tu. Aber wenn ich was tu, so tu ich’s nur mit dir allein, mit keinem anderen Menschen noch, und wenn es noch so ein nettes Mädel wie die Trudel ist oder ’ne alte, schutzlose Frau wie Sie, Frau Rosenthal. Ich sag nicht, es ist richtig, wie ich’s mache. Aber anders kann ich’s nicht machen. So bin ich, und ich will auch gar nicht anders sein. So, und jetzt will ich schlafen!«
Damit legt sich Otto Quangel wieder hin. Drüben tuscheln sie noch leise, aber das stört ihn nicht. Er weiß: sein Wille geschieht doch. Morgen früh ist seine Wohnung wieder sauber, und die Anna wird sich auch fügen. Keine wilden Geschichten mehr. Und er allein. Er allein. Nur er!
Er schläft ein, und wer ihn jetzt schlafen sehen könnte, der würde ihn lächeln sehen, ein grimmiges Lächeln auf diesem harten, trockenen Vogelgesicht, ein grimmiges, kämpferisches Lächeln, doch kein böses.
10. Was am Mittwochmorgen geschah
All die zuvor berichteten Ereignisse hatten sich an einem Dienstag zugetragen. Am Morgen des folgenden Mittwochs, sehr früh, zwischen fünf und sechs Uhr, verließ Frau Rosenthal, von der Trudel Baumann begleitet, die Quangel’sche Wohnung. Otto Quangel schlief noch fest. Die Trudel hatte die unbehilfliche, völlig verängstigte Frau Rosenthal mit dem gelben Stern auf der Brust bis fast an die Fromm’sche Wohnungstür gebracht. Dann zog sie sich eine halbe Treppe höher zurück, fest entschlossen, die Frau, und sei es mit dem eigenen Leben und der eigenen Ehre, gegen einen etwa herabkommenden Persicke zu verteidigen.
Trudel beobachtete, wie Frau Rosenthal auf den Klingelknopf drückte. Fast sofort wurde die Tür geöffnet, als habe jemand schon wartend dahinter gestanden. Einige Worte wurden leise gewechselt, dann trat Frau Rosenthal ein, die Tür schloss sich, und Trudel Baumann ging an ihr vorbei auf die Straße. Das Haus war schon offen.
Die beiden Frauen hatten Glück gehabt. So früh es auch war und sosehr Frühaufstehen auch den Gewohnheiten der Persickes widersprach, so hatten doch die beiden SS-Männer keine fünf Minuten früher das Treppenhaus passiert. Um fünf Minuten war eine Begegnung vermieden, die bei der sturen Dummheit und der Brutalität der beiden Burschen nicht anders als verhängnisvoll, zum mindesten für Frau Rosenthal, ausgefallen wäre.
Auch die beiden SS-Männer waren nicht allein gegangen. Sie hatten von ihrem Bruder Baldur den Befehl erhalten, den Barkhausen und den Enno Kluge (Baldur hatte unterdes seine Papiere durchgesehen) aus dem Hause und zu ihren Frauen zu schaffen. Die beiden Amateureinbrecher waren immer noch fast völlig benebelt von dem Übermaß genossenen Alkohols und von dem Schlag, den sie abbekommen hatten. Doch war es Baldur Persicke gelungen, ihnen begreiflich zu machen, dass