Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke


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auf, nicht, wie Quan­gel er­war­tet hat­te, ne­ben ihm, son­dern aus dem In­nern der Woh­nung kom­mend. Plötz­lich stand er wie eine Geis­terer­schei­nung zwi­schen ih­nen und jag­te den Per­sickes einen neu­en, noch grö­ße­ren Schre­cken ein.

      Er sah üb­ri­gens höchst selt­sam aus, der alte Herr. Die zier­li­che, kaum mit­tel­große Ge­stalt war ganz in einen sei­de­nen schwarz­blau­en Schlaf­rock gehüllt, des­sen Kan­ten mit ro­ter Sei­de ein­ge­fasst wa­ren und der mit großen ro­ten Holz­knöp­fen ge­schlos­sen war. Der alte Herr trug einen eis­grau­en Kinn­bart und einen stark ge­stutz­ten wei­ßen Bart auf der Ober­lip­pe. Das sehr dün­ne, noch bräun­li­che Kopf­haar war sorg­fäl­tig über den blei­chen Schä­del fri­siert, konn­te aber die Blö­ße nicht ganz ver­de­cken. Hin­ter der schma­len gold­ge­fass­ten Bril­le fun­kel­ten ver­gnüg­te, spöt­ti­sche Au­gen zwi­schen tau­send Fält­chen.

      »Nein, mei­ne Her­ren«, sag­te er zwang­los und schi­en da­durch eine längst be­gon­ne­ne und alle höchst be­frie­di­gen­de Un­ter­hal­tung fort­zu­set­zen. »Nein, mei­ne Her­ren, Frau Ro­sen­thal ist nicht in der Woh­nung. Aber viel­leicht be­müht sich ei­ner der jun­gen Her­ren Per­si­cke ein­mal auf die Toi­let­te. Ihr Herr Va­ter scheint nicht ganz wohl zu sein. Je­den­falls ver­sucht er stän­dig, sich mit ei­nem Hand­tuch dort auf­zu­hän­gen. Ich konn­te ihn nicht da­von ab­brin­gen …«

      Der Kam­mer­ge­richts­rat lä­chelt, aber die bei­den äl­te­ren Per­sickes ver­las­sen so über­stürzt das Zim­mer, dass es schon fast ko­misch an­mu­tet. Der jun­ge Per­si­cke ist jetzt sehr blass und ganz nüch­tern ge­wor­den. Der alte Herr, der da eben das Zim­mer be­tre­ten hat und der mit sol­cher Iro­nie spricht, das ist ein Mann, des­sen Über­le­gen­heit so­gar Bal­dur ohne wei­te­res an­er­kennt. Der tut nicht nur über­le­gen, der ist es wirk­lich. Bal­dur Per­si­cke sagt fast bit­tend: »Ver­ste­hen Sie, Herr Kam­mer­ge­richts­rat, Va­ter ist, gra­de­her­aus ge­sagt, völ­lig be­sof­fen. Die Ka­pi­tu­la­ti­on von Frank­reich …«

      »Ich ver­ste­he, ich ver­ste­he voll­kom­men«, sagt der alte Rat und macht eine be­schwich­ti­gen­de Hand­be­we­gung. »Wir sind alle Men­schen, nur, dass wir uns nicht gleich alle auf­hän­gen, wenn wir be­trun­ken sind.« Er schweigt einen Au­gen­blick und lä­chelt. Er sagt: »Er hat na­tür­lich auch al­les Mög­li­che ge­re­det, aber wer ach­tet schon auf das Ge­schwätz ei­nes Be­trun­ke­nen?« Wie­der lä­chelt er.

      »Herr Kam­mer­ge­richts­rat!«, sagt Bal­dur Per­si­cke fle­hend. »Ich bit­te Sie, neh­men Sie die­se Sa­che in die Hand! Sie sind Rich­ter ge­we­sen, Sie wis­sen, was zu ge­sche­hen hat …«

      »Nein, nein«, sagt der Rat ent­schie­den ab­leh­nend. »Ich bin alt und krank.« Er sieht aber gar nicht so aus. Im Ge­gen­teil: blü­hend sieht er aus. »Und dann lebe ich ganz zu­rück­ge­zo­gen, ich habe kaum noch Ver­bin­dung mit der Welt. Aber Sie, Herr Per­si­cke, Sie und Ihre Fa­mi­lie, Sie sind es doch, die die bei­den Ein­bre­cher über­rascht ha­ben. Sie über­ge­ben sie der Po­li­zei, Sie stel­len das Gut hier in der Woh­nung si­cher. Ich habe mir bei mei­nem ra­schen Rund­gang eben einen klei­nen Über­blick ver­schafft. Ich habe zum Bei­spiel sieb­zehn Kof­fer und ein­und­zwan­zig Kis­ten ge­zählt. Und an­de­res mehr. Und an­de­res mehr …«

      Er hat im­mer lang­sa­mer ge­re­det. Im­mer lang­sa­mer. Nun sagt er leicht: »Ich könn­te mir den­ken, dass die Er­grei­fung der bei­den Ein­bre­cher Ih­nen und Ih­rer Fa­mi­lie noch Ruhm und Ehre ein­tra­gen wird.«

      Der Kam­mer­ge­richts­rat schweigt. Bal­dur steht sehr nach­denk­lich da. So kann man es auch ma­chen – was für ein al­ter Fuchs der Fromm da ist! Er durch­schaut be­stimmt al­les, si­cher hat der Va­ter ge­quatscht, aber er will sei­ne Ruhe ha­ben, er will nichts von die­ser Sa­che wis­sen. Von ihm droht kei­ne Ge­fahr. Und Quan­gel, der alte Werk­meis­ter? Der hat sich nie um je­man­den im Haus ge­küm­mert, der hat nie je­man­den ge­grüßt, nie mit ei­nem ein Wort ge­spro­chen. Der Quan­gel ist so ein rich­ti­ger al­ter Ar­bei­ter, aus­ge­mer­gelt, aus­ge­pumpt, der hat kei­nen ei­ge­nen Ge­dan­ken mehr im Kopf. Der macht sich be­stimmt nicht un­nö­tig Sche­re­rei­en. Der ist erst recht ge­fahr­los.

      Blei­ben die bei­den blö­den Be­sof­fe­nen, die da lie­gen. Na­tür­lich kann man sie der Po­li­zei über­ge­ben und al­les ab­leug­nen, was der Bark­hau­sen etwa über An­stif­tung er­zählt. Dem wer­den sie be­stimmt kei­nen Glau­ben schen­ken, wenn er ge­gen An­ge­hö­ri­ge der Par­tei, der SS und der HJ aus­sagt. Und dann den gan­zen Fall der Ge­sta­po mel­den. Da be­kommt man viel­leicht ganz le­gal einen Teil die­ser Sa­chen, die man sonst nur il­le­gal und un­ter Ge­fahr an sich brin­gen könn­te. Und hät­te au­ßer­dem Aner­ken­nung dazu.

      Ein ver­lo­cken­der Weg. Aber viel­leicht ist der an­de­re doch noch bes­ser, erst ein­mal al­les auf sich be­ru­hen zu las­sen. Den Bark­hau­sen und die­sen Enno ver­pflas­tern und mit ein paar Mark los­schi­cken. Die re­den be­stimmt nicht. Die Woh­nung ab­schlie­ßen, wie sie ist, ob die Ro­sen­thal nun zu­rück­kommt oder nicht. Vi­el­leicht ist spä­ter was zu ma­chen – er hat das ziem­lich si­che­re Ge­fühl, der Kurs ge­gen die Ju­den wird noch schär­fer. Ab­war­ten und Tee trin­ken. In ei­nem hal­b­en Jahr kann man viel­leicht schon Sa­chen ma­chen, die heu­te noch nicht ge­hen. Jetzt ha­ben sie, die Per­sickes, sich ein biss­chen viel Blö­ßen ge­ge­ben. Man wird nicht gra­de ge­gen sie vor­ge­hen, aber man wird in der Par­tei über sie klat­schen. Sie wer­den nicht mehr als ganz zu­ver­läs­sig gel­ten.

      Bal­dur Per­si­cke sagt: »Ich möch­te bei­na­he die bei­den Ker­le lau­fen­las­sen. Sie tun mir leid, Herr Kam­mer­ge­richts­rat, es sind doch bloß klei­ne Kläf­fer.«

      Er sieht sich um, er ist al­lein. So­wohl der Kam­mer­ge­richts­rat wie der Werk­meis­ter sind ge­gan­gen. Wie er es sich ge­dacht hat: sie wol­len nichts mit der Sa­che zu tun ha­ben. Das Schlaues­te, was man tun kann. Er, Bal­dur, wird es nicht an­ders ma­chen, und wenn die Brü­der noch so sehr schimp­fen.

      Mit ei­nem tie­fen Seuf­zer, der all den schö­nen Sa­chen gilt, die er auf­ge­ben muss, schickt sich Bal­dur an, in die Kü­che zu ge­hen, den Va­ter zur Be­sin­nung und die Brü­der zum Ver­zicht auf schon Er­reich­tes zu brin­gen.

      Auf der Trep­pe sagt un­ter­des der Kam­mer­ge­richts­rat zu dem Werk­meis­ter Quan­gel, der ihm wort­los aus der Stu­be ge­folgt ist: »Und wenn Sie Schwie­rig­kei­ten we­gen der Ro­sen­thal be­kom­men, Herr Quan­gel, wen­den Sie sich an mich. Gute Nacht.«

      »Was geht mich die Ro­sen­thal an? Ich kenn sie gar nicht!«, pro­tes­tiert Quan­gel.

      »Also gute Nacht, Herr Quan­gel!«, und der Kam­mer­ge­richts­rat Fromm ver­schwin­det schon trepp­ab­wärts.

      Otto Quan­gel schließt die Tür zu sei­ner dunklen Woh­nung auf.

      9. Nachtgespräch bei Quangels

      Quan­gel hat kaum die Tür zum Schlaf­zim­mer auf­ge­macht, da ruft sei­ne Frau Anna er­schro­cken: »Mach kein Licht, Va­ter! Die Tru­del schläft hier in dei­nem Bett. Ich habe dir dein Bett auf dem Sofa in der Stu­be zu­recht­ge­macht.«

      »Ist gut, Anna«, ant­wor­tet Quan­gel und wun­dert sich über die­se Neue­rung, dass die Tru­del durch­aus in sei­nem Bett schla­fen muss. Sonst hat sie auf dem Sofa ge­le­gen.

      Aber er sagt erst wie­der was, als er sich aus­ge­zo­gen hat und un­ter der De­cke auf dem Sofa liegt. Er fragt: »Willst