einem halben Zwielicht, zwischen sich den unaufhörlich schwatzenden, drohenden, blitzenden Baldur. Auf dem Sofa hatten sich die beiden SS-Männer herumgelümmelt, drohende, finstere Gestalten, trotz ihres ewigen Zigarettenrauchens. Sie hatten das unsichere Gefühl, als ständen sie vor einem Gerichtshof zur Aburteilung, der Tod schien ihnen zu drohen. Sie schwankten auf ihren Stühlen hin und her und versuchten zu verstehen, was sie verstehen sollten. Dazwischen dösten sie ein und wurden sofort wieder durch einen schmerzhaften Faustschlag Baldurs geweckt. Alles, was sie geplant, getan, erlitten hatten, schien ihnen wie ein unwirklicher Traum, sie sehnten sich nur nach Schlaf und Vergessen.
Schließlich schickte sie Baldur mit seinen Brüdern fort. In den Taschen trugen Barkhausen wie Kluge, ohne es zu wissen, etwa fünfzig Mark in kleinen Scheinen. Baldur hatte sich zu diesem neuen, schmerzlichen Opfer entschlossen, durch das die Unternehmung Rosenthal für die Persickes vorläufig zu einem reinen Verlustgeschäft wurde. Aber er sagte sich, wenn die Männer ohne alles Geld, zerschlagen und arbeitsunfähig zu ihren Frauen zurückkehrten, würde es bei den Weibern viel mehr Geschrei und Nachfrage geben, als wenn ihnen die betrunkenen Kerle einiges Geld zutrugen. Und er rechnete damit, dass bei dem Zustand der Männer die Frauen das Geld finden würden.
Der ältere Persicke, der Barkhausen nach Haus zu bringen hatte, war mit seiner Aufgabe in zehn Minuten fertig, in jenen zehn Minuten, in denen Frau Rosenthal die Fromm’sche Wohnung erreicht hatte und Trudel Baumann auf die Straße getreten war. Er hatte den fast gehunfähigen Barkhausen einfach beim Kragen gepackt, über den Hof geschleppt, vor der Barkhausen’schen Wohnung auf die Erde gesetzt und die Frau mit festen Faustschlägen gegen die Tür geweckt. Als sie erschrocken vor der finster drohenden Gestalt zurückgewichen war, hatte er sie angeschrien: »Da bring ich dir deinen Kerl, alte Sau! Schmeiß den Freier raus, den du im Bett hast, und pack deinen Kerl dafür rein! Hier bei uns im Treppenhaus besoffen rumliegen und alles vollkotzen …!«
Damit ging er und überließ alles andere Otti. Sie hatte noch ihre Mühe gehabt, den Emil aus den Kleidern und ins Bett zu bringen, dabei hatte der ältere bessere Herr, der noch bei ihr zu Gaste war, helfen müssen. Dann war er unbarmherzig fortgeschickt worden – trotz der frühen Stunde. Auch jedes Wiederkommen war ihm verboten, vielleicht konnte man sich mal in einem Café treffen, aber hier, nein, nie wieder.
Denn Ottichen war von einer panischen Angst ergriffen, seit sie den SS-Mann Persicke an ihrer Tür erblickt hatte. Sie wusste von mancher Kollegin, die von diesen schwarzen Herren zwar benutzt, statt einer Bezahlung aber als asozial und arbeitsscheu in ein KZ geschafft worden war. Sie hatte geglaubt, in ihrer düsteren Kellerwohnung ein völlig unbeobachtetes Dasein zu fristen, nun hatte sie erfahren, dass sie – wie alle zu dieser Zeit – ständig bespitzelt wurde. Hatte der Persicke ja sogar gewusst, dass sie einen fremden Herrn im Bett gehabt hatte! Nein, Ottichen wollte von fremden Herren vorläufig nichts mehr sehen. Zum hundertsten Mal in ihrem Leben gelobte sie sich Besserung.
Dieser Entschluss wurde ihr erleichtert, als sie achtundvierzig Mark in Emils Tasche fand. Sie steckte das Geld in ihren Strumpf und entschloss sich abzuwarten, was Emil von seinen Erlebnissen berichten würde, sie jedenfalls würde von dem Gelde nichts wissen!
Die Aufgabe des zweiten Persicke war wesentlich schwieriger, vor allem dadurch, dass der zurückzulegende Weg sehr viel weiter war, denn Kluges wohnten jenseits des Friedrichshains. Enno konnte ebenso wenig gehen wie Barkhausen, aber Persicke konnte ihn nicht auf der Straße am Kragen oder am Arm neben sich herschleifen. Es war ihm überhaupt peinlich, in der Gesellschaft dieses zerschlagenen, betrunkenen Mannes gesehen zu werden, denn je geringer er von seiner eigenen und seiner Mitmenschen Ehre dachte, umso höher stellte er die Ehre seiner Uniform.
Es war ebenso vergeblich, dem Kluge zu befehlen, kurz vor ihm oder einen Schritt hinter ihm zu gehen, immer hatte er die gleiche Neigung, sich auf die Erde zu setzen, zu stolpern, sich an Bäumen und Wänden festzuhalten oder gegen Passanten zu streifen. Umsonst war da jeder Faustschlag, jedes noch so scharfe Kommando, der Körper tat einfach nicht mit, und ihm die scharfe Abreibung zu erteilen, die ihn vielleicht doch nüchtern gemacht hätte, dafür waren die Straßen schon zu belebt. Persicke stand der Schweiß auf der Stirne, seine Kinnbackenmuskeln bewegten sich krampfhaft vor Wut, und er schwur es sich zu, dieser kleinen Giftkröte von Baldur einmal gründlich zu sagen, was er von solchen Aufträgen hielt.
Er musste die Hauptstraßen meiden, Umwege durch stillere Nebenstraßen machen. Dann packte er den Kluge unter dem Arm und trug ihn oft zwei, drei Straßenecken weit, bis er nicht mehr konnte. Viel Beschwer machte ihm auch eine Zeit lang ein Schupo,1 dem dieser etwas gewaltsame Frühtransport wohl aufgefallen war und der ihm durch seinen ganzen Bezirk folgte, den Persicke dadurch zu einem sanften und besorgten Benehmen zwingend.
Aber er nahm, als sie endlich im Friedrichshain angekommen waren, seine Rache dafür. Er setzte den Kluge hinter einem Gebüsch auf die Bank und bearbeitete ihn dann so, dass der Mann zehn Minuten lang völlig ohnmächtig dalag. Dieser kleine Rennwetter, dem eigentlich alles auf der Welt außer Interesse war, ausgenommen die Rennpferde, die er freilich zeit seines Lebens nur in den Zeitungen zu Gesicht bekommen hatte, dieses Geschöpf, das weder Liebe noch Hass empfinden konnte, dieser Arbeitsscheue, der alle Windungen seines kümmerlichen Hirns damit beschäftigt hatte, wie wirklicher Anstrengung zu entgehen war, dieser Mann Enno Kluge, blass, genügsam, farblos, er behielt von diesem Zusammentreffen mit den Persickes eine panische Angst vor jeder Parteiuniform, eine Angst, die ihn fortan in Seele und Geist lähmen sollte, wenn er mit solchen Parteileuten in Berührung kam, wie sich später noch zeigen sollte.
Ein paar Tritte in die Rippen weckten ihn aus seiner Ohnmacht, ein paar Schläge auf seinen Rücken setzten ihn in Gang, und so trabte er denn, feige wie ein verprügelter Hund, vor seinem Peiniger her, bis die Wohnung der Frau erreicht war. Aber die Tür war verschlossen: die Briefträgerin Eva Kluge, die in der Nacht noch an ihrem Sohn und damit an ihrem Leben verzweifelt war, hatte sich wieder auf ihren gewohnten Trott gemacht, den Brief an ihren Sohn Max in der Tasche, aber mit sehr wenig Hoffnung und Glauben im Herzen. Sie bestellte Post, wie sie es seit Jahren getan hatte, es war immer noch besser, als tatenlos und von trüben Gedanken gequält zu Hause zu sitzen.
Persicke, nachdem er sich überzeugt hatte, die Frau war wirklich nicht zu Haus, klingelte an der Nachbartür, zufällig an der Tür jener Frau Gesch, die dem Enno am Abend zuvor mit einer Lüge in die Wohnung seiner Frau geholfen