Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke


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an dem zer­ris­se­nen Hemd, dem Schmutz­fleck am Man­tel die Spu­ren ei­ner dau­ern­den Miss­hand­lung. Da ihr der Klu­ge aber von ei­nem SS-Mann über­ge­ben war, so hü­te­te sie sich, eine ein­zi­ge Fra­ge zu stel­len. Ja, sie hät­te ihn eher vor ihre Woh­nungs­tür ge­setzt als eine Schil­de­rung des ihm Wi­der­fah­re­nen an­ge­hört. Sie woll­te nichts wis­sen. Wenn sie nichts wuss­te, konn­te sie auch nichts aus­sa­gen, nicht sich ver­plap­pern, nicht schwat­zen, konn­te sie sich also auch nicht in Ge­fahr brin­gen.

      Der Klu­ge aß lang­sam kau­end das Brot, trank den Kaf­fee. Da­bei ran­nen di­cke Trä­nen des Schmer­zes und der Er­schöp­fung über sein Ge­sicht. Die Gesch warf schwei­gend von der Sei­te dann und wann einen be­ob­ach­ten­den Blick auf ihn. Dann, als er end­lich fer­tig ge­wor­den war, frag­te sie: »Und wo wol­len Sie nu hin? Ihre Frau nimmt Sie nicht wie­der auf, das wis­sen Se doch!«

      Er ant­wor­te­te nicht, er starr­te nur vor sich hin.

      »Und bei mir kön­nen Se auch nich blei­ben. Ers­tens mal er­laub­t’s der Ju­stav nich, und denn mag ich ooch nich al­lens vor Ih­nen ab­schlie­ßen. Wo wol­len Se also hin?«

      Er ant­wor­te­te wie­der nicht.

      Die Gesch sag­te hit­zig: »Denn setz ich Sie vor die Tür auf die Trep­pe! Gleich auf der Stel­le tu ich das! Oder?«

      Er sag­te müh­sam: »Tut­ti – alte Freun­din …« Und wein­te schon wie­der.

      »Jot­te­doch, so ’n Schmacht­lap­pen!«, sag­te die Gesch ver­ächt­lich. »Wenn ich im­mer gleich schlapp­ma­chen woll­te, wenn mir mal was schief­geht! Also Tut­ti – wie heißt sie denn rich­tig und wo wohnt sie?«

      Nach län­ge­rem Fra­gen und Dro­hen er­fuhr sie, dass Enno Klu­ge Tut­tis ei­gent­li­chen Na­men nicht wuss­te, sich aber zu­trau­te, ihre Woh­nung zu fin­den.

      »Na also!«, sag­te die Gesch. »Aber al­lein kön­nen Se so nich ge­hen, je­der Schu­po nimmt Sie fest. Ich bring Sie. Aber wenn die Woh­nung nicht stimmt, lass ich Sie auf der Stra­ße ste­hen. Ich hab kei­ne Zeit für lan­ges Rum­su­chen, ich muss ar­bei­ten!«

      Er bet­tel­te: »Erst ’nen Au­gen­blick schla­fen!«

      Sie ent­schied nach kur­z­em Zö­gern: »Aber nich län­ger als ’ne Stun­de! In ei­ner Stun­de nischt wie ab die Post! Da, le­gen Se sich aufs Kana­pee, ich deck Sie zu!«

      Sie war noch nicht mit der De­cke bei ihm, da war er schon fest ein­ge­schla­fen. –

      Der alte Kam­mer­ge­richts­rat Fromm hat­te Frau Ro­sen­thal selbst ge­öff­net. Er hat­te sie in sein Ar­beits­zim­mer ge­führt, des­sen Wän­de völ­lig mit Bü­chern be­deckt wa­ren, und hat­te sie dort in ei­nem Ses­sel Platz neh­men las­sen. Eine Le­se­lam­pe brann­te, ein Buch lag auf­ge­schla­gen auf dem Tisch. Der alte Herr trug jetzt selbst ein Ta­blett mit ei­nem Tee­känn­chen und ei­ner Tas­se, mit Zu­cker und zwei dün­nen Scheib­chen Brot her­zu und sag­te zu der Verängs­te­ten: »Erst früh­stücken Sie bit­te, Frau Ro­sen­thal, dann re­den wir!« Und als sie ihm we­nigs­tens ein Wort des Dan­kes sa­gen woll­te, mein­te er freund­lich: »Nein, bit­te wirk­lich erst früh­stücken. Tun Sie ganz so, als sei­en Sie hier zu Hau­se, ich tue es ja auch!«

      Da­mit nahm er das Buch un­ter der Le­se­lam­pe wie­der auf und be­gann in ihm zu le­sen, wo­bei sei­ne freie lin­ke Hand ganz me­cha­nisch im­mer wie­der von oben nach un­ten den eis­grau­en Kinn­bart strich. Er schi­en sei­ne Be­su­che­rin voll­kom­men ver­ges­sen zu ha­ben.

      All­mäh­lich kam wie­der ein biss­chen Zu­ver­sicht in die ver­ängs­tig­te alte Jü­din. Seit Mo­na­ten hat­te sie nur noch in Angst und Un­ord­nung ge­lebt, zwi­schen ge­pack­ten Sa­chen, stets ge­wär­tig des bru­tals­ten Über­falls. Seit Mo­na­ten kann­te sie we­der Heim noch Ruhe, noch Frie­den, noch Be­ha­gen. Und nun saß sie hier bei dem al­ten Herrn, den sie kaum je zu­vor auf der Trep­pe ge­se­hen; von den Wän­den sa­hen die hell- und dun­kel­brau­nen Le­der­bän­de vie­ler Bü­cher, ein großer Ma­ha­go­nisch­reib­tisch am Fens­ter, Mö­bel, wie sie sie selbst in der ers­ten Zeit ih­rer Ehe be­ses­sen, ein et­was ver­tre­te­ner Zwickau­er Tep­pich auf dem Fuß­bo­den. Und dazu die­ser le­sen­de alte Herr, der un­un­ter­bro­chen sein Zi­cken­bärt­lein strei­chel­te, ge­nau so ein Bärt­lein, wie es auch vie­le Ju­den ger­ne tru­gen, und dazu kam noch die­ser lan­ge Schlaf­rock, der ein we­nig an den Kaftan ih­res Va­ters er­in­ner­te.

      Es war, als sei wie nach ei­nem Zau­ber­spruch die gan­ze Welt aus Schmutz, Blut und Trä­nen ver­sun­ken und sie lebe wie­der in der Zeit, da sie noch an­ge­se­he­ne, ge­ach­te­te Men­schen wa­ren, nicht ge­hetz­tes Un­ge­zie­fer, das zu ver­til­gen Pf­licht ist.

      Un­will­kür­lich strich sie sich übers Haar, ganz von selbst nahm ihr Ge­sicht einen an­de­ren Aus­druck an. Es gab also doch noch Frie­den auf der Welt, so­gar hier in Ber­lin.

      »Ich bin Ih­nen sehr dank­bar, Herr Kam­mer­ge­richts­rat«, sag­te sie. Selbst ihre Stim­me klang an­ders, fes­ter.

      Er sah rasch hoch von sei­nem Buch. »Trin­ken Sie bit­te Ihren Tee, so­lan­ge er noch heiß ist, und es­sen Sie Ihr Brot. Wir ha­ben viel Zeit, wir ver­säu­men nichts.«

      Und er las schon wie­der. Ge­hor­sam trank sie jetzt den Tee und aß auch das Brot, trotz­dem sie viel lie­ber mit dem al­ten Herrn ge­spro­chen hät­te. Aber sie woll­te ihm in al­lem ge­hor­sam sein, sie woll­te den Frie­den sei­ner Woh­nung nicht stö­ren. Sie sah sich wie­der um. Nein, all dies soll­te so blei­ben, wie es jetzt war. Sie brach­te es nicht in Ge­fahr. (Drei Jah­re spä­ter soll­te eine Spreng­mi­ne die­ses Heim in Ato­me zer­rei­ben, und der ge­pfleg­te alte Herr soll­te im Kel­ler ster­ben, lang­sam und qual­voll …)

      Sie sag­te, in­dem sie die lee­re Tas­se auf das Ta­blett zu­rück­stell­te: »Sie sind sehr gü­tig zu mir, Herr Kam­mer­ge­richts­rat, und sehr mu­tig. Aber ich will Sie und Ihr Heim nicht nutz­los in Ge­fahr brin­gen. Es hilft doch al­les nichts. Ich gehe in mei­ne Woh­nung zu­rück.«

      Der alte Herr hat­te sie auf­merk­sam an­ge­se­hen, wäh­rend sie sprach, nun führ­te er die schon Auf­ge­stan­de­ne in ih­ren Ses­sel zu­rück. »Bit­te, set­zen Sie sich noch einen Au­gen­blick, Frau Ro­sen­thal!«

      Sie tat es wi­der­stre­bend. »Wirk­lich, Herr Kam­mer­ge­richts­rat, es ist mir ernst mit dem, was ich sage.«

      »Hö­ren Sie mich bit­te erst an. Auch mir ist es ernst mit dem, was ich Ih­nen sa­gen wer­de. Was zu­erst die Ge­fahr an­langt, in die Sie mich brin­gen, so habe ich mein Leb­tag, seit ich im Be­ruf ste­he, in Ge­fahr ge­schwebt. Ich bin stets Kam­mer­rich­ter ge­we­sen, und man hat mich in ge­wis­sen Krei­sen nur den blu­ti­gen Fromm oder den Scharf­rich­ter Fromm ge­nannt.« Er lä­chel­te, als er ihr Zu­sam­men­schre­cken sah. »Ich war stets ein stil­ler und wohl auch sanf­ter Mensch, aber das Schick­sal hat es über mich ver­hängt, dass ich wäh­rend mei­ner Lauf­bahn ein­und­zwan­zig To­des­ur­tei­le ver­hän­gen oder be­stä­ti­gen muss­te. Ich habe eine Her­rin, der ich zu ge­hor­chen habe, sie re­giert mich, Sie, die Welt, selbst die Welt jetzt drau­ßen, und die­se Her­rin ist die Ge­rech­tig­keit. An sie habe ich im­mer ge­glaubt, glau­be ich heu­te noch, die Ge­rech­tig­keit habe ich al­lein zur Richt­schnur mei­nes Han­delns ge­macht …«

      Wäh­rend er so sprach, ging er lei­se auf und ab im Zim­mer, die Hän­de auf dem Rücken, stets in Frau Ro­sent­hals Ge­sichts­feld blei­bend. Die Wor­te ka­men ru­hig und lei­den­schafts­los von sei­nen Lip­pen, er sprach