Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke


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Ro­sen­thal …«

      »Doch das sind an­de­re Men­schen heu­te«, wi­der­sprach Frau Ro­sen­thal.

      »Sag­te ich Ih­nen nicht, dass die­se Dro­hun­gen von Ver­bre­chern und ih­ren Kom­pli­cen aus­gin­gen? Nun also!« Er lä­chel­te leicht. »Es sind kei­ne an­de­ren Men­schen. Es sind ein biss­chen mehr ge­wor­den, und die an­de­ren sind ein biss­chen fei­ger ge­wor­den, aber die Ge­rech­tig­keit ist die­sel­be ge­blie­ben, und ich hof­fe, wir bei­de er­le­ben noch ih­ren Sieg.« Ei­nen Au­gen­blick stand er da, ge­ra­de auf­ge­rich­tet. Dann nahm er sei­ne Wan­de­rung wie­der auf. Er sag­te lei­se: »Und der Sieg der Ge­rech­tig­keit wird nicht der Sieg die­ses deut­schen Vol­kes sein!«

      Er schwieg einen Au­gen­blick, dann be­gann er wie­der leich­teren Tons: »Nein, Sie kön­nen nicht in Ihre Woh­nung zu­rück. Die Per­sickes sind heu­te Nacht dort ge­we­sen, die­se Par­tei­leu­te über mir, wis­sen Sie. Die Woh­nungs­schlüs­sel sind in ih­rem Be­sitz, sie wer­den Ihr Heim jetzt un­ter stän­di­ger Beo­b­ach­tung hal­ten. Dort wä­ren Sie wirk­lich völ­lig nutz­los in Ge­fahr.«

      »Aber ich muss dort sein, wenn mein Mann zu­rück­kommt!«, bat Frau Ro­sen­thal fle­hend.

      »Ihr Mann«, sag­te der Kam­mer­ge­richts­rat Fromm freund­lich be­ru­hi­gend, »Ihr Mann kann Sie vor­läu­fig nicht be­su­chen. Er be­fin­det sich zur­zeit im Un­ter­su­chungs­ge­fäng­nis Moa­bit un­ter der Be­schul­di­gung, meh­re­re Aus­lands­gut­ha­ben ver­heim­licht zu ha­ben. Er ist also in Si­cher­heit, so­lan­ge es ge­lingt, das In­ter­es­se der Staats­an­walt­schaft und der Steu­er­be­hör­de an die­sem Ver­fah­ren wach­zu­hal­ten.«

      Der alte Rat lä­chel­te lei­se, er sah Frau Ro­sen­thal er­mu­ti­gend an und nahm dann sei­ne Wan­de­rung wie­der auf.

      »Aber wo­her kön­nen Sie wis­sen?«, rief Frau Ro­sen­thal aus.

      Er mach­te eine be­schwich­ti­gen­de Hand­be­we­gung. Er sag­te: »Ein al­ter Rich­ter hört im­mer dies und das, auch wenn er nicht mehr im Amte ist. Es wird Sie auch in­ter­es­sie­ren, dass Ihr Mann einen tüch­ti­gen An­walt hat und ver­hält­nis­mä­ßig an­stän­dig ver­sorgt wird. Den Na­men und die Adres­se des An­walts sage ich Ih­nen nicht, er wünscht kei­ne Be­su­che in die­ser Sa­che …«

      »Aber viel­leicht kann ich mei­nen Mann in Moa­bit be­su­chen!«, rief Frau Ro­sen­thal auf­ge­regt aus. »Ich könn­te ihm fri­sche Wä­sche brin­gen – wer sorgt denn dort für sei­ne Wä­sche? Und Toi­let­ten­sa­chen und viel­leicht et­was zu es­sen …«

      »Lie­be Frau Ro­sen­thal«, sag­te der Kam­mer­ge­richts­rat a.D. und leg­te sei­ne al­ters­fle­cki­ge Hand mit den ho­hen blau­en Adern fest auf ihre Schul­tern. »Sie kön­nen Ihren Mann eben­so we­nig be­su­chen, wie er Sie be­su­chen kann. Ein sol­cher Be­such nützt ihm nichts, denn Sie kom­men nicht bis zu ihm, und er scha­det nur Ih­nen.«

      Er sah sie an. Plötz­lich lä­chel­ten sei­ne Au­gen nicht mehr, auch sei­ne Stim­me klang streng. Sie be­griff, dass die­ser klei­ne, sanf­te, gü­ti­ge Mann ein­mal der blu­ti­ge Fromm, der Scharf­rich­ter Fromm ge­nannt wor­den war, dass er ei­nem un­er­bitt­li­chen Ge­setz in sich folg­te, wohl die­ser Ge­rech­tig­keit, von der er ge­spro­chen hat­te.

      »Frau Ro­sen­thal«, sag­te die­ser blu­ti­ge Fromm lei­se, »Sie sind mein Gast – so­lan­ge Sie die Ge­set­ze der Gast­freund­schaft be­fol­gen, von de­nen ich Ih­nen gleich ein paar Wor­te sa­gen wer­de. Die­ses ist das ers­te Ge­bot der Gast­freund­schaft: So­bald Sie ei­gen­mäch­tig han­deln, so­bald ein­mal, ein ein­zi­ges Mal nur, die Tür die­ser Woh­nung hin­ter Ih­nen zu­ge­schla­gen ist, öff­net sich die­se Tür Ih­nen nie wie­der, ist Ihr und Ihres Man­nes Name für im­mer aus­ge­löscht hin­ter die­ser Stirn. Sie ha­ben mich ver­stan­den?«

      Er be­rühr­te leicht sei­ne Stirn, er sah sie durch­drin­gend an.

      Sie flüs­ter­te lei­se ein »Ja«.

      Erst jetzt nahm er die Hand wie­der von ih­rer Schul­ter. Sei­ne vor Ernst dun­kel ge­wor­de­nen Au­gen wur­den wie­der hel­ler, lang­sam nahm er sei­ne Wan­de­rung von Neu­em auf. »Ich bit­te Sie«, fuhr er leich­ter fort, »das Zim­mer, das ich Ih­nen gleich zei­gen wer­de, bei Tage nicht zu ver­las­sen, auch sich dort nicht am Fens­ter auf­zu­hal­ten. Mei­ne Be­die­ne­rin ist zwar zu­ver­läs­sig, aber …« Er brach un­mu­tig ab, er sah jetzt nach dem Buch un­ter der Le­se­lam­pe hin­über. Er fuhr fort: »Ver­su­chen Sie es wie ich, die Nacht zum Tage zu ma­chen. Ein leich­tes Schlaf­mit­tel wer­den Sie auf dem Ti­sche dort fin­den. Mit Es­sen ver­sor­ge ich Sie des Nachts. Wenn Sie mir jetzt fol­gen wol­len?«

      Sie folg­te ihm auf den Kor­ri­dor hin­aus. Sie war jetzt wie­der et­was ver­wirrt und ver­ängs­tigt, ihr Gast­ge­ber war so völ­lig ver­än­dert. Aber sie sag­te sich ganz rich­tig, dass der alte Herr sei­ne Stil­le über al­les lieb­te und kaum noch den Um­gang mit Men­schen ge­wohnt war. Er war jetzt ih­rer müde, er sehn­te sich nach sei­nem Plut­arch zu­rück, wer das im­mer auch sein moch­te.

      Der Rat öff­ne­te eine Tür vor ihr, schal­te­te das Licht ein. »Die Ja­lou­si­en sind ge­schlos­sen«, sag­te er. »Es ist hier auch ver­dun­kelt, las­sen Sie das bit­te so, es könn­te Sie sonst ei­ner aus dem Hin­ter­haus se­hen. Ich den­ke, Sie wer­den hier al­les fin­den, was Sie brau­chen.«

      Er ließ sie einen Au­gen­blick dies hel­le, fröh­li­che Zim­mer be­trach­ten mit sei­nen Bir­ken­holz­mö­beln, ei­nem voll­be­setz­ten, hoch­bei­ni­gen Toi­let­ten­tisch­chen und ei­nem Bett, das noch einen »Him­mel« aus ge­blüm­tem Chintz be­saß. Er sah das Zim­mer an wie et­was, das er lan­ge nicht ge­se­hen und nun wie­der­er­kann­te. Dann sag­te er mit tie­fem Ernst: »Es ist das Zim­mer mei­ner Toch­ter. Sie starb im Jah­re 1933 – nicht hier, nein, nicht hier. Ängs­ti­gen Sie sich nicht!«

      Er gab ihr rasch die Hand. »Ich schlie­ße das Zim­mer nicht ab, Frau Ro­sen­thal«, sag­te er, »aber ich bit­te Sie, sich jetzt so­fort ein­zu­rie­geln. Sie ha­ben eine Uhr bei sich? Gut! Um zehn Uhr abends wer­de ich bei Ih­nen klop­fen. Gute Nacht!«

      Er ging. In der Tür wand­te er sich noch ein­mal um. »Sie wer­den in den nächs­ten Ta­gen sehr al­lein sein mit sich, Frau Ro­sen­thal. Ver­su­chen Sie, sich dar­an zu ge­wöh­nen. Al­lein­sein kann et­was sehr Gu­tes be­deu­ten. Und ver­ges­sen Sie nicht: Es kommt auf je­den Über­le­ben­den an, auch auf Sie, ge­ra­de auf Sie! Den­ken Sie an das Abrie­geln!«

      Er war so lei­se ge­gan­gen, so lei­se hat­te er die Tür ge­schlos­sen, dass sie erst zu spät merk­te, sie hat­te ihm we­der gute Nacht ge­sagt noch ge­dankt. Sie ging rasch zur Tür, aber schon wäh­rend des Ge­hens be­sann sie sich. Sie dreh­te nur den Rie­gel zu, dann ließ sie sich auf den nächs­ten Stuhl nie­der, ihre Bei­ne zit­ter­ten. Aus dem Spie­gel des Toi­let­ten­tisch­chens schau­te sie ein blei­ches, von Trä­nen und Wa­chen ge­dun­se­nes Ge­sicht an. Sie nick­te lang­sam, trü­be die­sem Ge­sicht zu.

      Das bist du, Sara, sag­te es in ihr. Lore, die jetzt Sara ge­nannt wird. Du bist eine tüch­ti­ge Ge­schäfts­frau ge­we­sen, im­mer tä­tig. Du hast fünf Kin­der ge­habt, ei­nes lebt nun in Dä­ne­mark, ei­nes in Eng­land, zwei in den USA, und ei­nes liegt hier auf dem Jü­di­schen Fried­hof an der Schön­hau­ser Al­lee. Ich bin nicht böse, wenn sie dich Sara nen­nen. Aus der Lore ist im­mer mehr eine Sara ge­wor­den; ohne dass sie es woll­ten, ha­ben sie mich zu ei­ner Toch­ter mei­nes Vol­kes ge­macht,