Rosenthal …«
»Doch das sind andere Menschen heute«, widersprach Frau Rosenthal.
»Sagte ich Ihnen nicht, dass diese Drohungen von Verbrechern und ihren Komplicen ausgingen? Nun also!« Er lächelte leicht. »Es sind keine anderen Menschen. Es sind ein bisschen mehr geworden, und die anderen sind ein bisschen feiger geworden, aber die Gerechtigkeit ist dieselbe geblieben, und ich hoffe, wir beide erleben noch ihren Sieg.« Einen Augenblick stand er da, gerade aufgerichtet. Dann nahm er seine Wanderung wieder auf. Er sagte leise: »Und der Sieg der Gerechtigkeit wird nicht der Sieg dieses deutschen Volkes sein!«
Er schwieg einen Augenblick, dann begann er wieder leichteren Tons: »Nein, Sie können nicht in Ihre Wohnung zurück. Die Persickes sind heute Nacht dort gewesen, diese Parteileute über mir, wissen Sie. Die Wohnungsschlüssel sind in ihrem Besitz, sie werden Ihr Heim jetzt unter ständiger Beobachtung halten. Dort wären Sie wirklich völlig nutzlos in Gefahr.«
»Aber ich muss dort sein, wenn mein Mann zurückkommt!«, bat Frau Rosenthal flehend.
»Ihr Mann«, sagte der Kammergerichtsrat Fromm freundlich beruhigend, »Ihr Mann kann Sie vorläufig nicht besuchen. Er befindet sich zurzeit im Untersuchungsgefängnis Moabit unter der Beschuldigung, mehrere Auslandsguthaben verheimlicht zu haben. Er ist also in Sicherheit, solange es gelingt, das Interesse der Staatsanwaltschaft und der Steuerbehörde an diesem Verfahren wachzuhalten.«
Der alte Rat lächelte leise, er sah Frau Rosenthal ermutigend an und nahm dann seine Wanderung wieder auf.
»Aber woher können Sie wissen?«, rief Frau Rosenthal aus.
Er machte eine beschwichtigende Handbewegung. Er sagte: »Ein alter Richter hört immer dies und das, auch wenn er nicht mehr im Amte ist. Es wird Sie auch interessieren, dass Ihr Mann einen tüchtigen Anwalt hat und verhältnismäßig anständig versorgt wird. Den Namen und die Adresse des Anwalts sage ich Ihnen nicht, er wünscht keine Besuche in dieser Sache …«
»Aber vielleicht kann ich meinen Mann in Moabit besuchen!«, rief Frau Rosenthal aufgeregt aus. »Ich könnte ihm frische Wäsche bringen – wer sorgt denn dort für seine Wäsche? Und Toilettensachen und vielleicht etwas zu essen …«
»Liebe Frau Rosenthal«, sagte der Kammergerichtsrat a.D. und legte seine altersfleckige Hand mit den hohen blauen Adern fest auf ihre Schultern. »Sie können Ihren Mann ebenso wenig besuchen, wie er Sie besuchen kann. Ein solcher Besuch nützt ihm nichts, denn Sie kommen nicht bis zu ihm, und er schadet nur Ihnen.«
Er sah sie an. Plötzlich lächelten seine Augen nicht mehr, auch seine Stimme klang streng. Sie begriff, dass dieser kleine, sanfte, gütige Mann einmal der blutige Fromm, der Scharfrichter Fromm genannt worden war, dass er einem unerbittlichen Gesetz in sich folgte, wohl dieser Gerechtigkeit, von der er gesprochen hatte.
»Frau Rosenthal«, sagte dieser blutige Fromm leise, »Sie sind mein Gast – solange Sie die Gesetze der Gastfreundschaft befolgen, von denen ich Ihnen gleich ein paar Worte sagen werde. Dieses ist das erste Gebot der Gastfreundschaft: Sobald Sie eigenmächtig handeln, sobald einmal, ein einziges Mal nur, die Tür dieser Wohnung hinter Ihnen zugeschlagen ist, öffnet sich diese Tür Ihnen nie wieder, ist Ihr und Ihres Mannes Name für immer ausgelöscht hinter dieser Stirn. Sie haben mich verstanden?«
Er berührte leicht seine Stirn, er sah sie durchdringend an.
Sie flüsterte leise ein »Ja«.
Erst jetzt nahm er die Hand wieder von ihrer Schulter. Seine vor Ernst dunkel gewordenen Augen wurden wieder heller, langsam nahm er seine Wanderung von Neuem auf. »Ich bitte Sie«, fuhr er leichter fort, »das Zimmer, das ich Ihnen gleich zeigen werde, bei Tage nicht zu verlassen, auch sich dort nicht am Fenster aufzuhalten. Meine Bedienerin ist zwar zuverlässig, aber …« Er brach unmutig ab, er sah jetzt nach dem Buch unter der Leselampe hinüber. Er fuhr fort: »Versuchen Sie es wie ich, die Nacht zum Tage zu machen. Ein leichtes Schlafmittel werden Sie auf dem Tische dort finden. Mit Essen versorge ich Sie des Nachts. Wenn Sie mir jetzt folgen wollen?«
Sie folgte ihm auf den Korridor hinaus. Sie war jetzt wieder etwas verwirrt und verängstigt, ihr Gastgeber war so völlig verändert. Aber sie sagte sich ganz richtig, dass der alte Herr seine Stille über alles liebte und kaum noch den Umgang mit Menschen gewohnt war. Er war jetzt ihrer müde, er sehnte sich nach seinem Plutarch zurück, wer das immer auch sein mochte.
Der Rat öffnete eine Tür vor ihr, schaltete das Licht ein. »Die Jalousien sind geschlossen«, sagte er. »Es ist hier auch verdunkelt, lassen Sie das bitte so, es könnte Sie sonst einer aus dem Hinterhaus sehen. Ich denke, Sie werden hier alles finden, was Sie brauchen.«
Er ließ sie einen Augenblick dies helle, fröhliche Zimmer betrachten mit seinen Birkenholzmöbeln, einem vollbesetzten, hochbeinigen Toilettentischchen und einem Bett, das noch einen »Himmel« aus geblümtem Chintz besaß. Er sah das Zimmer an wie etwas, das er lange nicht gesehen und nun wiedererkannte. Dann sagte er mit tiefem Ernst: »Es ist das Zimmer meiner Tochter. Sie starb im Jahre 1933 – nicht hier, nein, nicht hier. Ängstigen Sie sich nicht!«
Er gab ihr rasch die Hand. »Ich schließe das Zimmer nicht ab, Frau Rosenthal«, sagte er, »aber ich bitte Sie, sich jetzt sofort einzuriegeln. Sie haben eine Uhr bei sich? Gut! Um zehn Uhr abends werde ich bei Ihnen klopfen. Gute Nacht!«
Er ging. In der Tür wandte er sich noch einmal um. »Sie werden in den nächsten Tagen sehr allein sein mit sich, Frau Rosenthal. Versuchen Sie, sich daran zu gewöhnen. Alleinsein kann etwas sehr Gutes bedeuten. Und vergessen Sie nicht: Es kommt auf jeden Überlebenden an, auch auf Sie, gerade auf Sie! Denken Sie an das Abriegeln!«
Er war so leise gegangen, so leise hatte er die Tür geschlossen, dass sie erst zu spät merkte, sie hatte ihm weder gute Nacht gesagt noch gedankt. Sie ging rasch zur Tür, aber schon während des Gehens besann sie sich. Sie drehte nur den Riegel zu, dann ließ sie sich auf den nächsten Stuhl nieder, ihre Beine zitterten. Aus dem Spiegel des Toilettentischchens schaute sie ein bleiches, von Tränen und Wachen gedunsenes Gesicht an. Sie nickte langsam, trübe diesem Gesicht zu.
Das bist du, Sara, sagte es in ihr. Lore, die jetzt Sara genannt wird. Du bist eine tüchtige Geschäftsfrau gewesen, immer tätig. Du hast fünf Kinder gehabt, eines lebt nun in Dänemark, eines in England, zwei in den USA, und eines liegt hier auf dem Jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee. Ich bin nicht böse, wenn sie dich Sara nennen. Aus der Lore ist immer mehr eine Sara geworden; ohne dass sie es wollten, haben sie mich zu einer Tochter meines Volkes gemacht,