Karl Vorlander

Immanuel Kant: Der Mann und das Werk


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das entscheidende Gutachten des ehrwürdigen großen Haufens" diejenige Freiheit genommen haben, "die durch nichts weiter als durch – die gesunde Vernunft gerechtfertigt ist". Aber er erblicke eine Menge "unternehmender Köpfe" um sich, die gleichfalls "mit dem Gesetze des Ansehens nichts wollen zu schaffen haben"; und so wage er es darauf hin, seine "Einfälle" zu äußern: "ob ich gleich weiß, dass diejenigen Herren, welche gewohnt sind, alle Gedanken als Spreu wegzuwerfen, die nicht auf die Zwangmühle des Wolffischen oder eines anderen berühmten Lehrgebäudes aufgeschüttet werden, bei dem ersten Anblick die Mühe der Prüfung für unnötig und die ganze Betrachtung für unrichtig erklären werden."

      Wir verdanken die als Programmschriften erschienenen Abhandlungen Magister Kants der an sich nicht zu lobenden Zeitsitte, dass in das offizielle Vorlesungsverzeichnis der Universität die Collegien dei Privatdozenten nicht aufgenommen wurden. So waren diese genötigt, ihre Vorlesungen in besonderen Druckschriften anzuzeigen. Anders steht es mit dem letzten naturphilosophischen Werk aus der vorkritischen Zeit.

      Naturwissenschaft und Religion

      Den Abschluß nämlich der in erster Linie dem Nachdenken über naturphilosophische Probleme gewidmeten Periode seiner Magisterzeit bildet eine Ende 1762 erschienene größere Schrift, die nach des Autors eigener Versicherung ein "mühsam gesammeltes Baugerät" war und "die Folge eines langen Nachdenkens" darstellte: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes.

      Diese Schrift ist nicht, wie man nach dem Titel und dem ersten, kürzeren Abschnitt vermuten könnte, theologischen, sondern – wenigstens in ihrem weitaus größten Teile – naturphilosophischen Inhalts. Sie hat zwar die Absicht, "vermittelst der Naturwissenschaft zur Erkenntnis Gottes aufzusteigen", verfolgt aber dabei den Zweck, der "natürlichen Weltweisheit" bzw. "Erklärungsart" ein freieres Feld zu eröffnen. Sie will das Thema endgültig abschließen, das wir in der Kosmogonie von 1755 angeschlagen sahen: das Verhältnis von Naturwissenschaft und Gottesglauben; nur dass dort das Hauptgewicht auf die naturwissenschaftlichen Ausführungen fiel, während jetzt die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Gottesbeweise eine größere Rolle spielt. Noch bestimmter wird diesmal die Grenzlinie gezogen. Immer wieder protestiert der Verfasser gegen die "gewöhnliche" Physiko-Theologie seiner Zeit, die möglichst viele Naturerscheinungen aus unmittelbaren göttlichen Eingriffen erklären will und anstatt der natürlichen überall "Zweckursachen" ausfindig zu machen strebt. Ein solches Verfahren bringe die Philosophie ins Gedränge, setze der Naturforschung Grenzen, begünstige unter dem Scheine religiöser Andacht wissenschaftliche Faulheit, ja mache aller wahren Naturforschung ein Ende. Wunder, d. i. übernatürliche Begebenheiten, soll man im gewöhnlichen Lauf der Dinge ohne "erheblichste" Ursache nicht annehmen. Gewiß will Kant der Religion keinen Eintrag tun; aber der Begriff "Gott" bedeutet ihm im Grunde nichts anderes als: Einheit, Harmonie und Ordnung des Mannigfaltigen.

      Selbst die anscheinend "freiesten" Handlungen sind doch einer "großen Ordnung" unterworfen, wie z. B. die Statistik der Ehen beweise, wenn auch auf diesem Gebiete noch nicht alles "gehörig eingesehen" sei. Wir müssen in der Naturwissenschaft – auch in der organischen, wo es schwieriger ist – nach immer größerer Einheit streben, die in der Notwendigkeit allgemeiner Gesetze besteht. Mit genialer Voraussicht ahnt Kant hier bereits die Einheit aller Naturkräfte, die erst in unseren Tagen zur wissenschaftlichen Wahrheit zu werden begonnen hat: dass Wärme, Luft, Elektrizität, ja vielleicht auch der Magnetismus nur verschiedene Erscheinungsweisen der nämlichen Materie seien.

      Die Opposition gegen den Dogmatismus der Metaphysik hat sich verstärkt, ist fast schon zur Skepsis gediehen. Er vergleicht sie einem "finsteren Ozean" ohne Ufer und rettende Leuchttürme, mit "bodenlosen Abgründen". Er will nicht mehr mit fertigen Definitionen arbeiten, mit denen die Metaphysik es der Mathematik gleichzutun strebt, sondern solche erst zu finden suchen. Er empfindet Abneigung gegen die "überfeine Weisheit" der "logischen Schmelzküche". Von den sogenannten Gottesbeweisen verwirft er sowohl den des Descartes wie den der Wolffianer, die beide aus bloßen Begriffen das Dasein Gottes folgern. Aber auch der gebräuchlichste, aus der Zweckmäßigkeit der Welt – von ihm damals noch der "kosmologische" genannt – sei zwar "schön", aber ohne strenge Beweiskraft. Nur eine gewisse Form des ontologischen, wonach die Aufhebung von Gottes Dasein alles denkbare Sein aufheben würde, will er als "einzig möglichen" Beweisgrund noch gelten lassen. Wenn nicht, nun, "so schlaget Euch von diesem ungebahnten Fußsteige auf die große Heeresstraße der menschlichen Vernunft!" Denn, wenn es auch "durchaus nötig" ist, "dass man sich vom Dasein Gottes überzeuge", so ist es doch "nicht ebenso nötig", dass "man es demonstriere". Damit schließt das merkwürdige Buch.

      Die ziemlich umfangreiche Schrift machte den Namen des Königsberger Magisters zum erstenmal in weiteren Gelehrtenkreisen bekannt. Moses Mendelssohn pries in den "Literaturbriefen" den Verfasser als "Selbstdenker" und forderte ihn auf, das dauerhafte philosophische System zu errichten, zu dem der bescheidene Kant bloß "die ersten Züge eines Hauptrisses" hatte liefern wollen. Mehrere Theologen entgegneten; in Wien kam sie auf den Index, während die freier Gesinnten zustimmten. Jacobi schreibt noch 1786, nach dem Erscheinen von Herders pantheistisch gehaltenem "Gott", an Hamann: "Mit dem Herderischen (sc. Gott) hat uns Kant schon anno 1763 begnadigt." Der Philosoph aber hatte sie vor allem zum Zweck der eigenen Klärung geschrieben. Sie schloß für ihn die erste, wesentlich naturphilosophische Epoche seiner Magisterjahre ab und bildet, zugleich mit ihren oben zitierten Schlußworten und ihrer Bevorzugung der natürlichen Vernunft vor allen scholastischen Tifteleien, den Übergang zu der folgenden empiristisch-skeptischen und zugleich mehr anthropologisch-ethischen Periode seines Philosophierens.

      Zweites Kapitel

      Zweite Periode der Magisterzeit (1762—70)

      Äußeres Leben: Der "galante" Magister

      Wendung durch Rousseau 1762

      Um das Jahr 1762 tritt eine Wendung in Kants innerem Leben ein, von der uns deutlich hur eine bedeutsame Randbemerkung von seiner Hand in dem Handexemplar seiner 'Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen' Kunde gibt. Erinnern wir uns jenes merkwürdigen Briefes an Lindner (1759), der tiefe Unbefriedigtheit über die Menschen, von denen er umgeben ist, mit innerem Stolz auf seinen Gelehrtenberuf verband. Diesen von Pedanterie entfernten Stolz des Geistesaristokraten drückt in einfachen, aber unnachahmlich schönen Worten die erste Hälfte der neuen Niederschrift aus: "Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis und die begierige Unruhe, darin weiterzukommen, oder auch die Zufriedenheit bei jedem Fortschritte. Es war eine Zeit, da ich glaubte, dies alles könnte die Ehre der Menschheit machen, und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß." Dann aber nennt er den Namen des Mannes, der einen völligen Umschwung in seinem Wesen bewirkt hat: "Rousseau hat mich zurecht gebracht." Jener "verblendete Vorzug verschwindet. Ich lerne die Menschen ehren und würde mich viel unnützer finden als die gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubte, dass diese Betrachtung allen übrigen einen Wert geben könne, die Rechte der Menschheit herzustellen."

      Jahr und Tag dieser Wendung vermögen wir nicht, wie es bei Goethe oder Schüler so oft möglich ist, mit Bestimmtheit festzustellen. Wahrscheinlich war es 1762. Vermutlich hat zwar Kant, der ja überhaupt ein starker Leser war, auch schon Rousseaus erste Schriften aus den 50er Jahren bald nach ihrem Erscheinen gelesen. Eine solche Kenntnis scheinen z. B. die beiden Briefe Hamanns an Kant aus dem Jahre 1759 (S. 91 f.) vorauszusetzen. Aber einen nachhaltigen Eindruck haben sie damals schwerlich auf ihn gemacht. Noch das Universitätsprogramm 'Über den Optimismus' (Herbst 1759) verrät, wenn es auch gelegentlich das "bündige Urteil" des gemeinen Verstandes über die subtilen Irrtümer der Schulgelehrsamkeit setzt, nichts von Rousseauschem Einfluß, sondern geht in den Geleisen Leibnizens. Nun aber brachte im Sommer 1762 Kants späterer Hauswirt, der rührige Buchhändler Kanter, den in Frankreich auf den Scheiterhaufen gekommenen Contrat social aus Holland mit nach Königsberg, und Ende Juli wurde dort jeden Tag die Ankunft des Emile erwartet. Im Hochsommer 1762 also muß das Ungewöhnliche und Vielerzählte sich zugetragen haben, dass Magister Kant, von der Lektüre des soeben erschienenen Emile gefesselt, einige Tage lang seinen regelmäßigen Spaziergang aufgab.[30]

      Verkehr