beobachteten Verhältnisse der Landarbeiter schließen – sei zwar gut, liege ihm aber zu fern. Hamanns Ablehnung erfolgte in einem noch erhaltenen ausführlichen Briefe an Kant vom 27. Juli 1759. Statt eines ursprünglich verabredeten weiteren "Kolloquiums" zog nämlich der Magus vor, sein stärkstes Geschütz, das Schreiben, spielen zu lassen. Er ließ an jenem Tage eine gewaltige, in der Akademie-Ausgabe von Kants Briefwechsel neun volle Seiten (I, 7—16) umfassende Epistel oder, wie er selbst drastisch sagt, eine "Granate aus lauter kleinen Schwärmern" auf den "kleinen Magister" los. Von dem letzteren ist leider kein Brief aus dieser Zeit an Hamann erhalten. Um so wertvoller sind für uns die Stellen, an der Kants entgegengesetzte Wesensart in den Zeilen des geistreich-witzigen Brief Schreibers sich widerspiegelt. Gewiß trifft dieser das Richtige, wenn er meint, er müsse Kant "episch" schreiben, weil der Magister die "lyrische Sprache", die der Geschichtsschreiber des menschlichen Herzens anwende, noch nicht zu lesen verstehe. Der Gegensatz beider Naturen tritt ferner in dem ironischen Spott des "Magus" über den Philosophen hervor. Er müsse beinah darüber lachen, dass man einen solchen dazu ausgesucht, um eine Sinnesänderung in ihm hervorzurufen. Möge derselbe auch auf "die Dichter, Liebhaber und Projektmacher" herabsehen "wie ein Mensch auf einen Affen", mit "Lust und Mitleiden" zugleich: über gewisse Dinge solle er sich doch nicht mit ihm einlassen, die er (Hamann) besser beurteilen könne, weil er seine Autoren "nicht aus Journalen, sondern aus mühsamer und täglicher Hin- und Herwälzung derselben" kenne.
Die Liebesmüh' von beiden Seiten war umsonst: jeder blieb auf seinem Standpunkt. Der Magus wahrte seine Selbständigkeit auch einem Kant gegenüber. "Nicht Ihre Vernunft, nicht meine," schrieb er ihm in einem späteren Brief von Ende 1759, "hier ist Uhr gegen Uhr, die Sonne aber geht allein recht." Die Sonne aber war für den "gläubig" gewordenen Hamann einzig das biblische Christentum, und der Philosophie Amt bestand in seinen Augen bloß darin, ein "Zuchtmeister zum Glauben" zu sein, wofür er selbst Humes Skeptizismus in Anspruch nahm. So reiste denn Berens im Oktober d. J. wieder von Königsberg ab, ohne dass es zu einer Erneuerung der alten Freundschaft, gekommen wäre. Eür Hamann aber sind beide, Kant und Berens, die unbeabsichtigten Urheber seiner ersten Schrift, der "Sokratischen Denkwürdigkeiten" (Amsterdam 1759) gewesen, die "Niemand", d. i. dem Publikum, und "Zween", d. i. Berens und Kant, gewidmet waren. Die geistvolle und lebendige Auffassung des Sokrates, dem er allerdings auch manche Züge des eigenen Wesens unterschiebt, insbesondere die mystische Auffassung des sokratischen "Genius", spiegelt sich anscheinend noch in Kants spätester Schrift, freilich vorzugsweise in seiner Abneigung gegen diesen "orakelnden" Genius, wieder.[25] Im übrigen tritt die Person Kants in den "Denkwürdigkeiten" ganz zurück; nur einmal wird er, in unbewußter Vorausahmung seines philosophischen Ruhms, mit Newton als "allgemeinem Weltweisen" und philosophischem "Münzwardein" verglichen. Die eigene, im stärksten Kontrast zu der Art Kants stehende Denk- und Schreibweise charakterisiert Hamann in treffender Selbsterkenntnis mit den Worten: "Wahrheiten, Grundsätzen, Systemen bin ich nicht gewachsen. Brocken, Fragmente, Grillen, Einfälle."
Der Philosoph hatte demgegenüber wohl das Gefühl, dass eine Verständigung mit einer so entgegengesetzten Natur ausgeschlossen sei. Gleichwohl hat er eine in den 'Hamburger Nachrichten' erschienene Besprechung der Schrift, nach der "kein Jakob Böhme, kein wahnsinniger Schwärmer unverständlicheres und unsinnigeres Zeug reden und schreiben kann, als man da zu lesen bekommt" (Hamann), sicherlich weder selbst geschrieben noch veranlaßt, wie der mißtrauische Hamann eine Zeitlang argwöhnte. Denn noch in dem gleichen Jahre 1759 besprach er mit diesem ganz freundschaftlich den Plan einer gemeinsam abzufassenden "Kinderphysik", d. h., wie sich aus Hamanns ausführlichen zwei Antwortschreiben ergibt, einer Art Physischer Geographie oder Naturgeschichte für die Jugend, die von den ersten Elementen des Weltalls bis zu den Tieren und Menschen führen sollte. Kant, im Gefühl seiner Schwäche in Sachen praktischer Pädagogik, wandte sich an den in dieser Beziehung besser beschlagenen Hamann. Dieser traute allerdings – und wohl mit Recht – dem gelehrten Magister, dem kaum die Studenten im Kolleg zu folgen vermochten (s. S. 83), nicht zu, dass er sich in die Seele der Kinder zu versetzen, "sich zu ihrer Schwäche herabzulassen vermöge". Ein "Philosoph für Kinder" müsse "Herz" genug haben, der Verfasser einer "einfältigen, törichten und abgeschmackten" Naturlehre zu sein und, was für Hamann die Hauptsache war, "auf dem hölzernen Pferde der mosaischen Geschichte zu reiten" sich bequemen! Das war denn doch nicht Kants Fall. Denn am wenigsten konnte er, der der Aufklärung auch der Jugend dienen wollte, geneigt sein, den Unterricht eng an den biblischen Schöpfungsbericht anzuknüpfen. So ist es zu der gemeinsamen Arbeit und zu einem Schulbuche aus seiner Feder nicht gekommen. Er muß wohl Schweigen als die beste Antwort betrachtet haben, denn in einem zweiten Briefe beklagt sich Hamann bitter über Kants Stillschweigen, das "eine Beleidigung für mich ist, die ich ebensowenig erklären kann … als Sie meine auffahrende Hitze". Gekränkt erklärt er: "Es ist Ihnen aber nichts daran gelegen, mich zu verstehen. … Das heißt nicht philosophisch, nicht aufrichtig, nicht freundschaftlich gehandelt." Damit scheint eine längere Pause in dem schriftlichen und mündlichen Verkehr beider eingetreten zu sein. Wir werden auf das spätere Verhältnis Kants zu dem merkwürdigen Manne noch zurückkommen.
B. Die Schriften
1. Nova Dilucidatio (1755)
Die 'Neue Beleuchtung der ersten Prinzipien der menschlichen Erkenntnis' war die erste rein philosophische Schrift des jungen Gelehrten. Ein solches Thema mußte er schon deshalb wählen, weil er Logik und Metaphysik als sein eigentliches Fach bezeichnet hatte. So erhält man denn auch von ihr schon äußerlich den Eindruck einer offiziellen Universitätsschrift mit ihren Thesen, Beweisen, Erläuterungen und Zusätzen, die er nur an ihrer interessantesten Stelle, bei der Behandlung des Problems von Freiheit und Naturnotwendigkeit, durch die Dialogform lebendiger zu gestalten wagt. Sie ist darum auch nach der Vorschrift der Zeit, die bekanntlich noch tief bis ins 19. Jahrhundert hinein fortgedauert hat, lateinisch geschrieben. Und auch sachlich bewegt sie sich, in der Art der Problemstellung wie in der Weise der Behandlung, im ganzen noch in den Geleisen der zeitgenössischen Schulphilosophie. Trotzdem erinnert sie in manchen Beziehungen an seine Erstlingsschrift. Auch hier nimmt er die Selbständigkeit des eigenen Denkens selbst so berühmten Denkern wie Leibniz, Wolff, Crusius und Malebranche gegenüber in Anspruch. Von Interesse ist besonders, dass er schon hier auch den sogenannten "freien Willen" durch Naturnotwendigkeit bestimmt sein läßt. Für die verschiedenen Möglichkeiten unseres Handelns müssen in jedem Falle bestimmende Beweggründe vorhanden gewesen sein. "Frei"handeln heißt nur: seinem Begehren entsprechend mit Bewußtsein handeln; selbst Gott vermag nur das ursächlich Bestimmte vorauszusehen. Weiter wird schon der ganz moderne Grundsatz verfochten, dass in dem Satze von der Unveränderlichkeit des Quantums von Realität in der Welt "Realität" nichts anderes als "Kraft" (heute: Energie) bedeute, weshalb denn auch die Illustration dazu an den Stoßgesetzen elastischer Körper erfolgt. Bereits hier tritt ferner der junge Philosoph gegen diejenige Art von "Idealisten" auf, die das wirkliche Dasein der Körper bezweifelt. Er vertritt im Gegenteil die Ansicht von der Körperlichkeit aller endlichen Geister und die Bindung aller geistigen Funktionen des Menschen an den Stoff, selbst auf die Gefahr hin, dadurch in den Geruch der "verderblichen Ansicht des Materialismus" zu kommen. Man sieht, dass der "Empirismus" ihm im Blute steckte.
Sein eigentliches Interesse aber gehört in dieser Zeit einem anderen Gebiete. Sein Philosophieren nimmt denselben Anfang, wie die uns bekannte Geschichte wissenschaftlichen Philosophierens überhaupt: es ist Naturphilosophie.
2. Naturgeschichte und Theorie des Himmels
Bereits in seiner Erstlingsschrift hatte der Studiosus Kant sich an die höchsten Probleme der Naturphilosophie gewagt, die größten philosophischen Autoritäten der neueren Philosophie auf diesem Felde (Descartes, Leibniz) zu kritisieren unternommen. Eine neue "Dynamik" auf Grund einer Verbesserung des Leibnizschen Kraftbegriffs hatte er schaffen wollen: ein Gedanke, der ihn, wie wir sahen, noch weit über die Zeit der Abfassung seiner Schrift hinaus beschäftigte. Aber daneben war in den einsamen Jahren seiner Hauslehrerzeit, in der Pfarrei von Judtschen und auf dem Rittergute des "Oberlandes", ein weit großartigerer Plan in der Seele des Jünglings aufgestiegen: diese Dynamik, dieses Walten ewiger Kräfte aufzuzeigen in der Entwicklung der Welt von ihrem Urbeginn an. Er wollte, um es mit seinen eigenen Worten zu