Er sprach noch leiser, als er es ohnedies schon zu tun pflegte, und verbesserte sich oft. Doch bereits in der nächsten Stunde hatte er die kleine Schwäche überwunden. Seitdem blieb sein Vortrag "nicht allein gründlich, sondern auch freimütig und angenehm", wie Borowski, der selbst als 15 jähriger Fuchs das Kolleg besuchte, erzählt. Allerdings die "beinah unglaubliche" Menge, die sich den Neuen hatte anhören wollen, hielt nicht aus. Immerhin steht nach erhaltenen Universitätsakten fest, dass mindestens 23 Studierende – 21 der Theologie, 2 der Jurisprudenz, solche der Philosophie gab es offiziell nicht – Vorlesungen bei Kant in dessen erstem Dozentensemester haben hören wollen; möglicherweise sind es später auch mehr geworden.[23] Doch wenn auch nicht: der Privatdozent einer schwach besuchten Provinzuniversität konnte für den Anfang damit zufrieden sein.
Wir besitzen aus der Feder desselben Borowski weitere anschauliche Schilderungen über die Vortragsweise des neuen Magisters: "Das Kompendium, welches er etwa zum Grunde legte, befolgte er nie strenge.... Oft führte ihn die Fülle seiner Kenntnisse auf Abschweifungen, die aber doch immer sehr interessant waren, von der Hauptsache. Wenn er bemerkte, dass er zu weit ausgewichen war, brach er geschwind mit einem 'Und so weiter' oder 'Und so fortan' ab und kehrte wieder zur Hauptsache zurück." Seine Vorlesung war "freier Diskurs, mit Witz und Laune gewürzt", auch wohl mit (in seinen Schriften bekanntlich fast ganz vermiedenen) Zitaten und Hinweisen auf interessante Schriftsteller, bisweilen auch Anekdoten, "die aber immer zur Sache gehörten", untermischt. Dagegen suchte er nie, wie manche andere, durch allerlei Späße, Pikanterien oder Sticheleien gegen Kollegen sich wohlfeilen Beifall zu erwerben. "Dem Nachschreiben war er nicht hold. Es störte ihn, wenn er bemerkte, dass das Wichtigere oft übergangen und das Unwichtigere aufs Papier gebracht ward." Immer warnte er vor bloßer Nachbeterei. "Sie werden, das wiederholte er seinen Schülern unablässig, bei mir nicht Philosophie lernen, aber – philosophieren; nicht Gedanken bloß zum Nachsprechen, sondern denken.... Selbst denken, selbst forschen, auf seinen eigenen Füßen stehen, waren Ausdrücke, die unablässig wieder vorkamen." Freilich "war rege Aufmerksamkeit bei seinen Vorträgen nötig. Die Gabe, die vorkommenden Begriffe und Sachen ganz ins klare für jeden zu setzen, sie etwa durch Wiederholung in anderen Ausdrücken auch den zerstreuteren Zuhörern doch faßlich zu machen …, war Kant freilich nicht eigen." Weil er selbst viel von sich verlangte, so erwartete er auch von seinen Zuhörern geistiges Sich-Zusammennehmen, so dass Hamann in einem Briefe an ihn von 1759 meint, dieselben hätten Mühe, "es in der Geduld und Geschwindigkeit des Denkens mit Ihnen auszuhalten". Die meisten begannen daher auch, weil seine philosophischen Vorlesungen für zu schwer galten, mit seiner physischen Geographie, oder sie hörten, wie selbst der doch gewiß begabte Hippel, vorher den "ganzen philosophischen Kursus" bei einem weniger schwierigen Dozenten, wie Kants Kollegen Buck. "Übrigens nahm er etwaige Zweifel oder Bitten um Aufklärung in jüngeren Jahren stets freundlich entgegen und setzte dem Betreffenden die Sache, auch wohl auf einem Spaziergang nach dem Kolleg, gern auseinander. Ja, er kam in diesen ersten Dozentenjahren den Wünschen "einiger Herren" so weit entgegen, dass er einige Semester lang für seine Metaphysik-Vorlesung das gründliche, aber schwerere Kompendium von Baumgarten mit dem leichteren von Baumeister vertauschte.
Und er las viel, weit mehr als unsere heutigen Privatdozenten. Gleich im ersten Semester drei Kollegien auf einmal: Logik, Metaphysik und Mathematik; vielleicht auch noch Physik. Im folgenden Sommer kam noch die von ihm, als einem der ersten Universitätslehrer, eingeführte Physische Geographie hinzu, im Winter Ethik usf. Im Durchschnitt hat Kant während seiner Magisterjahre nicht unter 16 Wochenstunden gelesen, ja in einzelnen Semestern der 6oer Jahre ist diese Zahl auf 26 bis 28 gestiegen! Zu diesen im offiziellen Lektionskatalog angekündigten Vorlesungen traten in manchen Semestern noch Privatissima, zunächst während des siebenjährigen Krieges für russische Offiziere. Auch beaufsichtigte er gerade in diesen ersten Jahren häufig vornehme oder wohlhabende Studenten, die auf den Wunsch der Eltern im selben Hause mit ihm wohnten und aßen.
Vermögensverhältnisse
Alle diese Arbeit nahm er, wie aus einem Briefe an seinen Ereund Lindner hervorgeht, in erster Linie aus pekuniären Gründen auf sich. Auch wurde sie, besonders die Privatissima, nach seinem eigenen Zeugnis gut bezahlt, so dass er sogar Anträge, die ihm nicht zusagten, ablehnen konnte; wie er denn z. B. in den Jahren 1759 und 1760 eine Anzahl Studierender, die ein ästhetisches Kolleg mit Übungen "in Wohlredenheit und im deutschen Stil" von ihm wünschten, seinem Schüler Borowski überwies, der dann den Unterricht "unter Kants Direktion" erteilte. So blieb unser Immanuel vor eigentlicher Dürftigkeit. und vor dem, was ihm das Schrecklichste gewesen wäre, der Notwendigkeit, Schulden zu machen, bewahrt. Er selbst hat noch Jahrzehnte nachher, in einem Briefe an seinen Verleger Lagarde von 1790, gegen die "mitleiderregende Beschreibung" seiner äußeren Lage während der Magisterzeit durch einen gewissen Denina energisch protestiert: er habe stets "sein reichliches Auskommen" gehabt, eine Wohnung von zwei Stuben und einen "sehr guten" Tisch bezahlen, ja sogar sich einen Diener halten können. Jene Jahre seien im Gegenteil "die angenehmsten seines Lebens" gewesen. In der Tat hatte er schon 1761 einen eigenen Bedienten, wie aus einem Briefe an Borowski vom 6. März d. Js. zu sehen ist; und auf einer zufällig in seinem Nachlaß erhaltenen Rechnung aus seinen ersten Magister jähren sind neben drei Gulden für die Magd, einem Gulden für Waschen, sechs Groschen für Butter und drei für die "Perüque", auch 7½ Groschen für – Wein verzeichnet. Auch hat er, im Gegensatz zu Lessing oder Schiller, niemals für den Erwerb zu schreiben brauchen; er hat es, von den offiziellen Universitätsschriften abgesehen, stets nur aus innerem Bedürfnis heraus getan.
Seelische Stimmungen
An den äußeren und inneren Verhältnissen der Königsberger Professorenschaft hatte sich während der acht Jahre, die zwischen seinem Abgang als Studiosus und seinem Wiedereintritt in den akademischen Körper lagen, wenig oder nichts geändert. Innere Anteilnahme und wissenschaftliche Anregung fand er, zumal da Knutzen nicht mehr lebte, unter seinen Kollegen nur bei sehr wenigen: eher wohl neidische Gegner, die sich durch ihn verdunkelt sahen. Wenn ein Menschenalter später Goethe über das "Hetzen, Werben, Kompromittieren" der Jenaer Professoren, ihren "pfäffischen Stolz" und ihre "verworrene Borniertheit" unwillig sich äußerte, so wird es an der noch beschränkteren und isolierteren Königsberger Akademie der 50er und 60er Jahre kaum besser gewesen sein. So spottet nicht bloß der geistreiche Hamann öfters über die kleinlichen Rivalitäten und Schikanen wie über den Hochmut der Königsberger Professorenkreise, sondern auch zahlreiche Äußerungen in Kants eigenen Schriften über Gelehrteneinbildung und -pedanterie lassen sich ohne üble persönliche Erfahrungen kaum erklären. Er aber wirkte rein durch die Sache. So schreibt Hamanns Bruder am 16. März 1757 an G. E. Lindner: "Herr Magister Kant lebt glücklich und zufrieden, in der Stille wirbt er die Zuhörer des marktschreierischen Watson und schwächt durch seinen Fleiß und echte Gelehrsamkeit den scheinenden Beifall dieses Jünglings."[24] Neben frohen und erhebenden Stunden – er bekennt selbst später, er habe in jenen ersten Magisterjahren den "ganzen Stolz des Gelehrten in sich gefühlt" – hat Kant indes sicherlich auch trübe durchgemacht, von denen er freilich die Außenstehenden nichts merken ließ. In die Welt seines inneren Gefühls, die uns hierüber aufklären müßte, und die bei so vielen anderen Großen der Menschheit in Briefen oder Selbstbekenntnissen offen vor uns liegt, läßt seine Eigenart uns nur äußerst selten einen Blick tun. Es hindert ihn daran eine merkwürdige Verschlossenheit oder mindestens Kühle des Sichgebens gegenüber anderen, die durchaus nicht identisch ist mit Unbewegtheit des Gemüts, sondern eher von einer Keuschheit des Gefühls herrührt, wie sie der norddeutschen Natur häufig eigen ist. So hat uns denn bloß der glückliche Zufall eines erst neuerdings aufgefundenen Briefes einen Einblick in das Innenleben des "kleinen Magisters", wie Hamann ihn zu nennen pflegte, gewährt und gezeigt, dass er doch nicht der völlig leidenschaftslose, kühle Verstandesmensch gewesen ist, für den man ihn oft gehalten hat. Am 28. Oktober 1759, also nach vier Jahren Privatdozententums, beglückwünschte er seinen Freund und späteren Kollegen, den damaligen Gymnasiallehrer Lindner in Riga, dass dieser sich bei der ihm dort zuteil gewordenen Anerkennung hinwegsetzen könne, "über die elenden Buhlereyen um den Beyfall und die abgeschmakte [sic!] Einschmeichelungs Künste", die in Königsberg "großthuerische kleine Meister, die höchstens nur schaden können, denen auferlegen, welche gerne ihre Belohnung verdienen