Chronik zu schließen, war Andersch eine nüchterne, wesentlich praktisch gerichtete Natur. Er legt sich einen Baumgarten an, bewirtschaftet das Pfarrland selbst und hält sich ein eigenes Gespann. Er verkehrt mit den Amtspächtern der benachbarten königlichen Domänen – adlige Familien gab es in der Nähe nicht —, während er mit den lutherischen Kollegen der Nachbarschaft infolge des konfessionellen Gegensatzes auf gespanntem Fuße steht. Zu wissenschaftlichen Interessen fehlten ihm augenscheinlich sowohl Neigung wie Anregung. Dagegen war er bemüht, seinen fünf Söhnen eine gute Schulbildung zu geben, und, da er ein gutes, im Vergleich mit den meisten seiner Amtsbrüder auf dem Lande sogar glänzendes Einkommen bezog, so konnte er ihnen, wenigstens während ihrer jüngeren Jahre, Hofmeister halten.
Unserem Kant war als Lehrer der beiden älteren Söhne schon ein cand. theol. Rochholz (Rocholl?) vorausgegangen, dessen ausgezeichneter Unterricht der zweite, 1732 geborene Sohn später in seiner vita gerühmt hat. Da beide erst im Juli 1747, aus Rochholz' Unterricht entlassen, in das Joachimstaische Gymnasium bei Berlin aufgenommen wurden, so kann Kant frühestens Sommer 1747 die Stelle in Judtschen angetreten haben und nur als Lehrer der drei jüngeren Söhne, die damals im Alter von 13, 11 und 8 Jahren standen, in Betracht kommen. Der jüngste von ihnen scheint früh gestorben zu sein; von den beiden anderen war der ältere, Paul Benjamin (geb. 1734), am 8. Dezember 1748 zusammen mit Kant Taufzeuge, kam Juli 1750 ebenfalls nach Joachimstal und soll später erst Offizier, dann Kaufmann in England geworden sein. Der andere, Timotheus (geb. 1736), besaß in späteren Jahren ein angesehenes Manufakturwarengeschäft in der Kneiphöfschen Langgasse zu Königsberg und starb dort als Kommerzienrat 1818; vermutlich rührt von ihm ein in Kants Nachlaß gefundener Briefzettel vom 13. April 1800 her, der dem greisen einstigen Lehrer Auskunft gibt, in welcher Apotheke "sehr gute Pfropfen" zu erhalten seien. Da im Dezember 1751 in den Judtschener Kirchenregistern schon ein anderer Studiosus – diesmal der Theologie – neben der Frau Pastor als Taufpate erscheint, darf man wohl als sicher annehmen, dass Kant damals seinen Hauslehrerposten bereits verlassen hatte. Möglicherweise geschah dies doch schon Juli 1750, als der ältere Zögling nach Berlin kam. Er würde also (und das müßte zu den überlieferten drei Jahren stimmen) entweder von 1747—175c oder 1748—1751 als Hofmeister in dem reformierten Pfarrhause amtiert haben.[16]
Bei Major von Hülsen in Arnsdorf
Vermutlich bald darauf – von einem Königsberger Aufenthalt dazwischen wissen wir nichts – trat er eine zweite Hauslehrerstelle an der entgegengesetzten Ecke der Provinz an. Diesmal war es das Haus eines adligen Rittergutsbesitzers, des Majors Bernhard Friedrich von Hülsen auf Groß-Arnsdorf bei Saalfeld zwischen Elbing und Osterode, in das er eintrat, um den Unterricht der drei älteren Söhne, des 13 jährigen Christoph Ludwig, des 10 jährigen Ernst Friedrich und des 6 jährigen Georg Friedrich, zu leiten. Neben ihm ist vermutlich noch ein französischer Sprachlehrer engagiert gewesen; wenigstens war ein solcher Anfang 1761 vorhanden; Kant hat Französisch nur verstanden, nicht gesprochen. Der ostpreußische Landadel in der Zeit vor der großen Revolution lebte, wie der bekannte H. von Boyen in seinen Erinnerungen (I, 24) erzählt, "im allgemeinen noch sehr einfach, aber gastfrei. Für bessere Erziehung seiner Kinder zeigte sich hin und wieder ein rühmliches Streben; doch kann man nicht behaupten, dass die gnädigen Fräuleins und die Herren Junker von den gewöhnlich etwas unerfahrenen Hauslehrern beim Lernen zu sehr angestrengt wurden, darüber wachte die adlige Zärtlichkeit der Frau Mutter." Wahrscheinlich ist auch hier Kants Aufenthalt ein mehrjähriger gewesen. Wenigstens entspann sich mit der Familie ein noch viele Jahre fortdauerndes näheres Verhältnis: Zeugnis dessen sind dankbare und hochachtungsvolle Briefe des Vaters wie der Zöglinge, die den einstigen Hausgenossen noch nach Jahren "zum Teilnehmer jedes interessanten Familienereignisses machten" (Rink)[17]. Von dem Philosophen selbst ist ein vom 10. August 1754 datiertes, bereits wieder aus Königsberg geschriebenes Briefchen an den älteren Zögling erhalten, dem er zwei gewünschte Schulbücher "zur Historie und Latinität" nebst zwei Bildern für den jüngeren Bruder ("HE. Fritzchen") und den "lieben HE. Behrend"[18] schickt. Das ganze Schreiben macht in seiner Lebendigkeit den Eindruck, dass Kant damals das Hülsensche Haus noch nicht lange verlassen hatte. Als "Herr Fritzchen" sieben Jahre später in Königsberg immatrikuliert wurde, kam er zu seinem früheren Lehrer, dem jetzigen Magister Kant, in Pension. Freilich ging er, als echter ostpreußischer Junker, nach einem Jahre in den Offiziersberuf über, beurlaubte sich aber noch vor seinem Abschied aus dem Vaterhause "von seinem treuen Lehrer und Vorsorger durch ein dankbares Schreiben"[19] das dieser unter seinen Papieren aufbewahrte. Später hat er dann selbst dem einstigen Zögling für seine Kinder Hauslehrer von Königsberg aus besorgt (vgl. Kants Brief an G. F. von Hülsen, 1. Mai 1784).
Vielleicht war es doch eine Nachwirkung der von dem früheren Lehrer empfangenen Eindrücke, wenn gerade dieser Georg Friedrich von Hülsen zu den ersten der Rittergutsbesitzer gehörte, die unter Friedrich Wilhelm dem Dritten freiwillig ihre Gutsuntertanen von dem Zwang der Erbuntertänigkeit befreiten. Der Philosoph soll nach dem Zeugnis des späteren freisinnigen Oberpräsidenten Ostpreußens, Theodor von Schön, um 1795 von der menschenunwürdigen Lage der Erbuntertänigen gesagt haben: "die Eingeweide drehten sich ihm im Leibe um, wenn er daran dächte"! Ob er wohl schon als Hofmeister in Groß-Arnsdorf Erfahrungen in dieser Hinsicht gesammelt hat?
Bei Graf Keyserling in Rautenburg?
Ob Kant nach diesen beiden noch eine dritte Hauslehrerstelle im Hause des Grafen von Keyserling-Rautenburg im Kreise Tilsit-Niederung bekleidet hat, ist sehr zweifelhaft. Zu der von uns an anderer Stelle ('Kants lieben', S. 34—36) dagegen erhobenen Bedenken, auf die wir hier verweisen, tritt noch der oben wiedergegebene Eindruck des Briefes nach Arnsdorf. Vielleicht sind die von dieser dritten "Kondition" redenden Nachrichten dadurch zu erklären, dass Kant in seiner ersten Magisterzeit oder kurz vorher jede Woche ein- oder einigemal mit dem Wagen nach dem zwei Meilen südwestlich von Königsberg gelegenen Truchseßschen Schlosse Capustigall zum Privatunterricht geholt wurde; unter seinen dortigen Zöglingen könnte auch ein Sohn seiner edlen Gönnerin oder Freundin (s. Buch II, Kap. 5), der Gräfin Keyserling, gewesen sein, die eine geborene Truchseß-Waldburg war. Aller Wahrscheinlichkeit nach weilte der Philosoph seit 1754 wieder dauernd in seiner Vaterstadt; denn von dort ist nicht bloß der Brief an den jungen Hülsen datiert, sondern auch verschiedene andere Gründe, die wir weiter unten kennenlernen werden, sprechen dafür.
Bedeutung dieser Zeit für Kant
Wir aber fragen: Was bedeuten diese sechs oder sieben Hauslehrjahre für Kants Empfindungen und für seine Persönlichkeit? Wir müssen dabei freilich aus unscheinbaren Tatsachen weite und vielleicht nicht sehr sichere Schlüsse ziehen. Interessant ist da zunächst die von Haagen zum ersten Male aus dem Staub der Judtschener Kirchenregister ans Licht gezogene Tatsache, dass Kant am 27. Oktober 1748 bei der Taufe des kleinen Samuel Challet – sein Vater war Schulmeister und Kirchenvorsteher – sich als Studiosus philosophiae hat eintragen lassen. Demnach legte der 24½jährige junge Mann erstens auf den Kandidatentitel keinen Wert und hat es zweitens, obwohl in einem Pfarrhause lebend, vorgezogen, sich als Studiosus der Philosophie zu bezeichnen, wie auch schon 1—2 Jahre vorher bei Einreichung seiner ersten Schrift, für deren Druck er nun bald die Kosten decken konnte; denn von den 50—60 Talern, die er nach Haagens Schätzung außer freier Wohnung und Kost von Andersch bezog, konnte er bei den sicher sehr geringen Ansprüchen, die das Pfarrhaus an sein äußeres Auftreten stellte, das meiste zurücklegen. Möglicherweise ist er sogar deshalb zunächst lieber in ein einfach bürgerliches Haus gegangen, wo er zudem nicht fertig französisch zu parlieren und alle möglichen musikalischen Instrumente – Klavier und Violine, Flöte und "Bassetter" (vgl. Kant an von Hülsen, 1. Mai 1784) – zu spielen brauchte. Dafür richtete er auch keine üblen Folgen an, wie der Held von R. Lenzens Drama 'Der Hofmeister', das die Zustände auf diesem Gebiet in nur wenig späterer Zeit, nach dem Zeugnis urteilsfähiger Zeitgenossen, recht nach ostpreußischer Wirklichkeit gezeichnet hat. Pflichttreu ist er jedenfalls, wie sein ganzes Leben hindurch, so auch in dieser Stellung gewesen, und auch sein Unterricht wird nicht ganz so schlecht gewesen sein, wie er selber ihn in seinem Alter zu machen pflegte mit der scherzhaften Versicherung,