Karl Vorlander

Immanuel Kant: Der Mann und das Werk


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Und auch seine Vorlesungen vermögen ihn nicht von einem Gefühl der Bitterkeit und inneren Leere zu befreien. Wiederholte sich doch der Stoff immer wieder, und waren seine Zuhörer doch vielfach erst Jüngel-chen von 16, ja 15 Jahren, so dass gerade ein tiefer Denker wie er oft genug das faustische Gefühl empfunden haben wird:

      "Das Beste, was Du wissen kannst,

      Darfst Du den Buben doch nicht sagen."

      "Ich meines Theils sitze täglich vor dem Ambos meines Lehrpults und führe den schweren Hammer sich selbst ähnlicher Vorlesungen in einerley tacte fort." Manchmal zieht ihn innere Neigung zu erhebenderer Beschäftigung: "bisweilen reizt mich irgendwo eine Neigung edlerer Art, mich über diese enge Sphäre etwas auszudehnen." Aber – "der Mangel, mit Ungestühmer Stimme sogleich gegenwärtig mich anzufallen und immer wahrhaftig in seinen Drohungen, treibt mich ohne Verzug zur schweren Arbeit zurück". Indes, er will von niemandem, auch von den Freunden nicht, bemitleidet sein. Und so fährt er fort: in Anbetracht des Ortes, wo er sich befinde – er hängt an seiner Heimat – und der "kleinen Aussichten des Überflusses", die er sich erlaube, begnüge er sich schließlich mit dem Beifalle, mit dem man ihn begünstige, und mit den Vorteilen, die er daraus ziehe, um die ganze, sowieso schon ausnahmsweise Expektoration mit einem Worte zu schließen, das ich ähnlich in keiner seiner sämtlichen Schriften und Briefe gelesen zu haben mich erinnere, und das man jedem anderen eher zutrauen würde als gerade ihm: und – "träume mein Leben durch". Gewiß nicht immer, ja vielleicht nicht einmal häufig, wird Kants Selbstbeherrschung sich solchen melancholischen und doch wieder mit einem überlegenen Humor gepaarten Stimmungen überlassen haben; aber es ist doch bezeichnend, dass selbst bei einer so kühlen und verstandesklaren Natur wie Kant Stunden nicht gefehlt haben, wie sie keinem Genie erspart bleiben, das sich mit den Armseligkeiten und Kleinlichkeiten seiner Umgebung abfinden muß.

      Geselliger Umgang.

      Eine Trostschrift

      Der gesellige Verkehr des "kleinen Magisters" scheint sich in diesen ersten Jahren in ziemlich bescheidenen Grenzen bewegt zu haben. Freilich spricht Hamann in einem Briefe aus dem Jahre 1759 schon von der "akademischen" und "galanten" Welt, in der, im Gegensatz zu ihm selbst, Kant sich bewege. Allein bei dem "Magus aus Norden", der anspruchs- und formlos bis zum Äußersten war, will das nicht viel besagen. Die wenigen uns erhaltenen Nachrichten berichten jedenfalls nur von höchst einfachen Vergnügungen, von einem "bäurischen Abendbrot", das man zu dreien in dem Krug der Trutenauer Windmühle (in der weiteren Umgebung der Stadt) verzehrte oder von einem Zusammensein mit Referendar Wulf, Dr. jur. Funk (1721—1764), Hamann, Prof. Kypke und Gymnasiallehrer Freytag in Schultz' Kaffeegarten. Die beiden letztgenannten waren Schulkameraden Kants; mit Freytag, der seit 1747 am Domgymnasium unterrichtete, 1767 als Pfarrer nach dem benachbarten Kirchdorf Neuhausen kam und dort 1790 starb, scheint er besonders viel verkehrt zu haben. Er empfiehlt sich gelegentlich auch durch seinen gewesenen Schüler Borowski, der dort Hofmeister war, den "gnädigen Damen des von mir äußerst verehrten Schulkeimschen Hauses". Und er verkehrte natürlich, auch abgesehen von solchen Studierenden, deren Führung, d. h. "Beaufsichtigung" er besonders übernommen hatte, mit seinen augenblicklichen oder früheren Zuhörern.

      Ein Zeichen davon, wie sehr man ihn in weiten Kreisen schätzte, ist das, dass man nach dem Tode eines derselben gerade von ihm ein Trostschreiben an die trauernde Mutter begehrte. Diesem Umstand verdanken wir seine im Druck erschienenen, vom 6. Juni 1760 datierten 'Gedanken bei dem frühzeitigen Ableben des Herrn Johann Friedrich von Funk'. Wichtiger als der besondere Anlaß, der Tod eines an der Schwindsucht verstorbenen stillen und fleißigen kurischen Studenten, ist für uns die Beleuchtung, in der hierbei des Philosophen eigene Sinnesart erscheint. Die "Gedanken" sind in schwungvoller, fast poetischer und doch die Phrase verschmähender Sprache geschrieben, hier und da durch ein Dichterwort von Lukrez, Haller oder Pope gewürzt. Sie zeigen, dass ihr Verfasser keineswegs des weicheren Gefühls entbehrte. Gegenüber den "rauschenden Freuden" und dem "Getümmel der Geschäfte und Zerstreuungen", in denen die meisten Menschen ihr Glück suchen, preist er die "ruhige Heiterkeit der Seele", der nichts Menschliches unerwartet kommt, die "sanfte Schwermut", die in einsamer Stille die Nichtigkeit desjenigen erwägt, "was bei uns gemeiniglich für groß und wichtig gilt". "Bereit, sich mit einer christlichen Resignation in den Befehl des Höchsten zu ergeben", wenn es diesem gefällt, "ihn von der Bühne abzurufen", wird der Weise, in Gedanken an "seine große Bestimmung jenseits dem Grabe", bis dahin eifrig seine Pflichten erfüllen, "vernünftig in seinen Entwürfen, aber ohne Eigensinn, zuversichtlich auf die Erfüllung seiner Hoffnung, aber ohne Ungeduld, bescheiden in Wünschen, ohne vorzuschreiben, vertrauend, ohne zu pochen".

      Unter russischer Herrschaft

      Durch die russische Okkupation Ostpreußens, die vom Januar 1758 bis in den Juli 1762 hinein, also volle vierundeinhalb Jahre dauerte, änderte sich nichts Wesentliches in den Einrichtungen des Landes, insbesondere auch im gewohnten Leben der Universität: nur dass die Eingaben – auch diejenige Kants, wie wir sahen – jetzt an die "Allerdurchlauchtigste Großmächtigste Kayserin und große Frau" Elisabeth anstatt an den "Allerdurchlauchtigsten Großmächtigsten König" Friedrich II. gerichtet werden mußten. Besonders der menschenfreundliche Gouverneur Nikolaus von Korff (Juli 1758 bis Januar 1761) machte sich durch seine Rechtschaffenheit und Güte allgemein beliebt. Die russischen Offiziere brachten Geld ins Land; freilich mit dem größeren Luxus, den bald auch die Einheimischen annahmen, auch größere Leichtfertigkeit, namentlich in geschlechtlichen Dingen. Daneben herrschte jedoch in einem Teile des Offizierkorps anscheinend ein gewisser Bildungsdrang; wenigstens wird berichtet, dass unser Magister damals "viele russische Offiziere in der Mathematik privatim unterrichtet" habe. Zu einer nicht sicher bestimmten Zeit auch einen polnischen Edelmann von Orsetti, der im Sommer seine Güter bewirtschaftete, im Winter sich in Königsberg aufhielt und durch seinen Eifer Kant bis in sein Alter unvergeßlich blieb (Wannowski). In seinen Briefen und Schriften ist nirgends von den politischen und kriegerischen Zeitereignissen die Rede, eine Stelle in dein eben erwähnten Trostschreiben an Frau von Funk ausgenommen. Und auch dort sind es nicht patriotische, sondern allgemein-menschliche Gefühle, denen der Briefschreiber Ausdruck verleiht. "Zu einer Zeit, da ein wütender Krieg die Riegel des schwarzen Abgrunds eröffnet, um alle Trübsale über das menschliche Geschlecht hervorbrechen zu lassen", da flöße der gewohnte Anblick von Not und Tod den davon Bedrohten wohl eine "kaltsinnige Gleichgültigkeit" ein; anders, wenn in der "ruhigen Stille des bürgerlichen Lebens" der Tod einem aus dem Zirkel der uns Nahestehenden reiße! So schreibt ein Bürger von Königsberg Juni 1760, d. i. mitten in der Bedrängnis seines Staates durch den Krieg der sieben Jahre, der freilich die meiste Zeit fern von Ostpreußens Gefilden geführt wurde!

      Verkehr mit J. G. Hamann

      Ehe wir uns Kants Schriften während dieser Epoche zuwenden, müssen wir auf seinen Verkehr mit einem der Genannten noch besonders zurückkommen, weil gerade er einen neuen Blick in das innere Wesen Kants ermöglicht: den mit seinem sechs Jahre jüngeren Landsmann Johann Georg Hamann. Schon im Sommer 1756 hatte Magister Kant den damals kürzere Zeit unbeschäftigt in der Heimatstadt weilenden, 26 Jahre zählenden Chirurgensohn flüchtig kennengelernt, und letzterer ihn in einem Briefe an seinen Bruder einen "fürtrefflichen Kopf" genannt, dessen Schriften er zu lesen begierig sei. In näheren Verkehr kamen beide erst 1759 durch zwei gemeinschaftliche Freunde, den aus Königsberg stammenden und schon genannten Rektor Lindner in Riga (der auch in Herders Jugend eine Rolle spielt), und den Sohn eines Rigaer Kaufmannshauses, Christoph Berens. Hamanns Freundschaft mit dem jungen Berens, die auf ihrer gemeinsamen Begeisterung für Deismus und Weltbürgertum begründet gewesen war, hatte durch des ersteren, nach zeitweilig ziemlich leichtsinnigem Leben, plötzlich in London erfolgte "Bekehrung zu Christo" einen Stoß erlitten. Berens suchte nun während seines Königsberger Aufenthaltes den Freund für sich persönlich und für eine freiere Weltanschauung zurückzugewinnen mit Hilfe – Kants. Eine persönliche Aussprache gelegentlich jenes "bäurischen Abendbrotes" blieb ohne Erfolg; desgleichen ein Besuch beider in der Wohnung Hamanns. Vergeblich suchte der Phüosoph letzteren durch Übersetzung einiger Artikel aus der berühmten französischen Enzyklopädie auf andere und freiere Gedanken, vielleicht auch zu etwas Gelderwerb zu bringen. Zwei der ihm von Kant vorgeschlagenen Artikel über das Schöne und über die Kunst, fand der eigenartige Mensch zu fad. Der dritte: vom "Scharwerk