Karl Vorlander

Immanuel Kant: Der Mann und das Werk


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der Borowski noch in Abschrift vorlag, hat sich leider nicht erhalten. Dagegen haben wir in der Stadtbibliothek ein Exemplar von Kants "Doktordiplom", genauer gesagt der gedruckten Einladung zu dem feierlichen Akt entdeckt, in deren sehr ausführlichem Text es heißt:

      Facultas Philosophica

      viro iuveni nobilissimo et clarissimo

      Emanueli Kant, Reg. Pruss.

      Philosophiae candidato dignissimo

      Post egregie, in specimine exhibito et examine rigoroso, edita documenta

      Doctoris philosophiae seu magistri gradum et insignia

      Proxima Jovis die XII. Junii, Natali Brabeutae septuagesima

      rite et solenniter conferet

      Auf deutsch: Die philosophische Fakultät wird dem hochedlen und hochberühmten Emanuel Kant, aus dem Königreich Preußen, hochwürdigen Kandidaten der Philosophie, nach vorzüglichen, in seiner Abhandlung und bei dem Examen rigorosum gelieferten Proben den Grad und die Auszeichnungen eines Doctors der Philosophie oder Magisters am nächsten Donnerstag, 12. Juni, am 70. Geburtstage des Kampfrichters in gehöriger Form und feierlich übertragen.

      Am 27. September desselben Jahres erfolgte sodann, mit der öffentlichen Verteidigung seiner pro venia docendi eingereichten, gleichfalls lateinischen Dissertation "Eine neue Beleuchtung der ersten Prinzipien der metaphysischen Erkenntnis", seine Habilitation an der heimischen Universität. Das Amt des "Respondenten" versah der Kandidat der Theologie Leonhard; "Opponenten" waren ein Theologie-Student und zwei Rechtskandidaten.

      Zweites Buch

      Die Werdezeit

      (1754-1780)

      Erstes Kapitel.

      Die Magisterzeit: Erste Periode (1755—1762)

      Kant und Newton

      A. Persönliches

      Kants Persönlichkeit

      Dem Leben Immanuel Kants ist oft seine Eintönigkeit vorgeworfen worden. Und in der Tat, an äußerer Bewegtheit läßt es sich mit dem großer Zeitgenossen, wie Goethe und Winckelmann oder gar Lessing und Schiller, nicht von ferne vergleichen. Das gilt von seiner Jugend, das gilt auch von den nun folgenden langen Jahren seiner Magisterzeit. Wenn man wollte, so könnte man die äußeren Lebensschicksale unseres Philosophen während dieser anderthalb Jahrzehnte in einen einzigen Satz zusammenfassen: Seine zweimalige Bewerbung um eine Professur bleibt ohne Erfolg, auf eine dritte verzichtet er freiwillig, er nimmt eine Zeitlang mit einer kleinen Bibliothekarstelle vorlieb, lehnt in der Hoffnung auf endliche Anstellung mehrere Berufungen nach auswärts ab und erhält schließlich als 46 jähriger das längst verdiente Ordinariat für Logik und Metaphysik in seiner Heimatstadt.

      Allein die Bedeutung eines Menschenlebens beruht nicht auf außerordentlichen äußeren Erlebnissen, sondern auf der Art, wie der Betreffende sich seiner Umgebung, seiner Zeit, gegenüber stellt, wie er – ganz abgesehen von seinen intellektuellen Leistungen – seine Persönlichkeit durchsetzt, sein Leben einrichtet. Gerade diese Innenseite von Kants Leben nun freilich ist, soweit sie nicht in seinen wissenschaftlichen Bestrebungen aufgeht, für diese 15 Jahre nicht leicht zu erfassen. Von seinen ältesten und zuverlässigsten Biographen beschreibt der eine (Wasianski), der treue Pfleger seiner letzten Lebensjahre, im wesentlichen nur diese; der zweite (Jachmann) kennt ihn aus genauer, persönlicher Anschauung allein während der 8oer Jahre und hat das andere bloß vom Hörensagen; denn der Philosoph liebte es nicht, viel aus seinen eigenen früheren Jahren oder gar von seinem Innenleben zu erzählen. Der dritte endlich (Borowski) hat ihn zwar als junger Studiosus gerade in seinen ersten Magisterjahren gekannt, ist aber – wenngleich er später zu der Würde eines preußischen Erzbischofs aufgestiegen ist – seelisch nicht bedeutend genug, um mehr als die verehrende Schilderung des einstigen Schülers zu geben. Der Briefwechsel endlich, für die Zeit bis 1770 nur spärlich erhalten, liefert ebenfalls nicht allzuviel Material. So sind wir vielfach auf Vermuten angewiesen, wo wir lieber sichere Tatsachen wüßten. Mit diesen Einschränkungen versuchen wir, im folgenden ein möglichst der Wirklichkeit entsprechendes Bild des Magisters Kant zu zeichnen.

      Vergebliche Bewerbungen um eine Professur

      Ein Gedanke ist vor allem festzuhalten. Anders wie die meisten unserer geistigen Größen, läßt sich Kant auch schon in seinen jüngeren Jahren nicht von den Dingen und Personen seiner Umgebung treiben,[22] sondern geht mit festem Willen, still und ruhig, auf das selbst bestimmte Ziel los: "Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern, ihn fortzusetzen." Das Ziel aber, das er sich gesteckt, war dasjenige, welches er als das seiner Natur und seinen Geistesanlagen gemäßeste erkannt hatte: die Stellung eines Professors der Philosophie an der heimatlichen Universität; oder, um es mit den Eingangsworten seiner ersten Bewerbung um eben dieses Amt zu sagen: seine "größeste Bestrebung" war "jederzeit dahingegangen, sich zu dem Dienste Ew. Königl. Majestät auf Höchst dero Akademie nach Möglichkeit geschickt zu machen" (8. April 1756). Darum hatte nach einem "vieljährigen akademischen curriculo" der alte Student noch eine siebenjährige Hauslehrerzeit auf sich genommen, darum begann er jetzt mit mehr als 31 Jahren die dornenvolle Laufbahn eines Privatdozenten an einer Universität, von der noch in späterer, besser gewordener Zeit sein Kollege Kraus zu sagen pflegte: Professor an ihr zu werden, heiße zugleich das Gelübde der Armut ablegen. Und zwar Lehrer der Philosophie. Denn, wie vielseitig auch seine mathematischen, naturwissenschaftlichen und geographischen Studien gewesen waren: in erster Linie hatte er doch immer die philosophischen Wissenschaften "excoliret" und "zu dem vornehmsten Felde seiner Bestrebungen gewählet", unter ihnen aber am meisten wieder Logik und Metaphysik, "derjenigen vorzüglichen Neigung gemäß, die ich jederzeit zu diesem Teile der Weltweisheit gehabt habe" (Zweite Bewerbung vom 11. Dezember 1758).

      Darum bewarb er sich auch nicht um andere Professuren, womöglich gar noch in anderen Fakultäten, wie das an den damaligen deutschen Universitäten häufig vorkam und bei der elenden Bezahlung schließlich zu begreifen war: so dass z. B. ein Theologe zugleich Mathematiker oder gar Mediziner war. Auch seine Bewerbung um die unterste "Schulkollegen-", d. h. Gymnasiallehrerstelle am Kneiphöfschen oder Dom-Gymnasium, von der einige ältere Biographen berichten, ist nicht sicher. Wenn sie stattgefunden hat, müßte sie nach Wardas abschließender Untersuchung in das Jahr 1757 fallen und könnte sie nur aus pekuniären Erwägungen hervorgegangen sein. Sein jüngerer Kollege Kraus, der ihn aus langjährigem vertrauten Umgang in der späteren Zeit kannte, ist sogar so weit gegangen, zu behaupten: es sei ihm nie eingefallen, "um etwas für sich zu bitten oder zu ambiren (herumzugehen)". Das trifft gewiß in dem Sinne zu, dass Kant Zeit seines Lebens nie durch Konnexionen oder gar Schmeicheleien und Bücklinge vorwärts zu kommen, "Karriere zu machen" gesucht hat. Dagegen wäre es töricht von ihm gewesen, eine sich bietende günstige Gelegenheit nicht wahrzunehmen. So hat er sich denn auch bereits Ostern 1756 um das durch den Tod seines einstigen Lehrers Martin Knutzen seit fünf Jahren verwaiste Extraordinariat für Logik und Metaphysik beworben, das jedoch infolge des ausbrechenden Krieges überhaupt nicht wieder besetzt wurde. Desgleichen Ende 1758 in einem, nach der Sitte der Zeit sehr untertänig gehaltenen, Schreiben an die "Selbstherrscherin aller Reußen", d. h. in Wirklichkeit die russische Regierung in Königsberg, der Ostpreußen von 1758 bis 1762 unterstand, und zwar um die erledigte ordentliche Professur für die gleichen Fächer. Auch diesmal erfolglos. Kant, der sich noch im letzten Augenblick gemeldet hatte und von seinem alten Direktor F. A. Schultz unterstützt wurde, kam zwar mit seinem Kollegen, dem außerordentlichen Professor Bück, in engere Wahl; da dieser aber schon seit 15 Jahren unbesoldet an der Akademie wirkte, wurde er dem überdies an Jahren jüngeren Mitbewerber vorgezogen. So war und blieb dieser denn bis zu seinem 47. Lebensjahre der "Magister" Kant.

      Art seiner Vorlesungen

      Mit dem Beifall, den seine Vorlesungen fanden, konnte der neue Dozent zufrieden sein. Die allererste freilich, die er im Hörsaal des Professor Ordinarius Kypke auf der Neustadt (dem, heutigen Löbenicht), bei dem er auch wohnte, abhielt, geriet ihm nicht ganz. Der Ruf seiner Gelehrsamkeit